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Kapitel 63

 

 

 

Merry Christmas

 

 

 

„Teti hat Angst vor Oma und Tante Sam“, hatte er Seth lachend erklärt und auch der Kleine hatte gelacht. Natürlich, eigentlich gab es auch keinen Grund, unsicher und nervös zu sein, aber es war seine Familie. Ich lernte zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, seine Familie kennen und sie würden dann auch gleich noch erfahren, dass diese „neue“ Frau in Orlandos Leben seine Verlobte war. Sie wussten zwar, dass wir uns schon eine sehr lange Zeit kannten, aber ich war mir sicher, sie waren nicht gerade froh über die Reihenfolge, in der alles ablief. Ich war es ja selbst nicht 100 prozentig.

 

„Mach dir keine Sorgen, ihr werdet euch gut verstehen“, versuchte Orlando mich zu beruhigen als wir am Ortseingangsschild vorbeifuhren. Ich erinnerte mich noch schwach an unsere Besuche bei Großtante Dana, der Schwester meines Großvaters. Sie hatte auch hier in Canterbury gewohnt und ihre Tochter Tamara lebte immer noch hier, zumindest hatte mir das meine Großmutter bei unserem letzten Besuch erzählt. Als wir dann an einem sehr alten Gebäude vorbeifuhren, stoppte Orlando auf einmal und stieg aus. Verwirrt tat ich es ihm gleich und schnallte Seth ab, während Orlando auf das Gebäude zuging. Er lief einfach auf das Grundstück und ich wollte ihn schon aufhalten, als ich ein Schild bemerkte, auf dem „St. Edmunds, Boarding School“ geschrieben stand.

 

„Orlando? Orlando Bloom?“, fragte eine eher hohe, weibliche Stimme. Sie gehörte zu einer Frau am Ende des Eingangs, die gerade aus ihrem Auto gestiegen war. Sie war schon etwas älter und sah ziemlich gebrechlich aus.

 

„Miss Carmichael!“, sagte Orlando und ging auf die lächelnde Frau zu. Anscheinend kannten sie sich, sehr gut sogar, da Orlando sie gerade umarmte und mich dann zu sich winkte. „Miss Carmichael, das sind meine Verlobte Teti Kensington und mein Sohn Seth“, stellte er uns vor und die alte Dame schüttelte mir enthusiastisch die Hände, während sie Seth einmal über den Kopf streichelte. „Teti, Seth, das ist Miss Carmichael, meine alte Klassenlehrerin hier in St. Edmunds“, erklärte er dann als ich ihn wartend ansah. Er war also tatsächlich hier zur Schule gegangen und vor uns stand seine Klassenlehrerin. Sicherlich würde sie einige lustige Geschichten über Orlando erzählen können und es würde mich sicherlich etwas von dem bevorstehenden Treffen ablenken. Jedoch fragte ich mich, was diese Dame an einem Tag wie heute hier an der Schule machte.

 

„Betty, die Schüler werden unruhig“, hörte man einen Mann um die Ecke rufen.

 

„Sie haben darauf bestanden, mich persönlich zu verabschieden, trotz Weihnachten“, erklärte die alte Dame lächelnd und Orlando sah sie etwas traurig an. Wahrscheinlich fand er es schade, dass die Schule nun auf seine alte Klassenlehrerin verzichten musste. Und dann, obwohl er mir eigentlich versprochen hatte, heute einmal nur mein Verlobter und der Familienvater zu sein, wurde er wieder in sein eigentliches Leben als Schauspieler gezogen. Ich war ihm jedoch nicht böse, er hätte ja schlecht ablehnen können, als ihn seine alte Lehrerin bat, ebenfalls an ihrem Abschied teilzunehmen.

 

Die Schüler, die zum Abschied gekommen waren, waren natürlich vollkommen aus dem Häuschen, als auf einmal der allseits beliebte Schauspieler vor ihnen stand. Ich hingegen war eher weniger gern gesehen, wusste die meisten von ihnen doch, wer ich war, und mittlerweile hatte sich auch schon in den Klatschblättern rumgesprochen, dass Orlando und ich verlobt waren. Ich war also für die weiblichen Teenager ein Dorn im Auge. Bei den Männlichen war ich mir nicht so sicher, ob sie Orlando für seine Beliebtheit bei den Frauen oder für mich beneideten, vielleicht auch für beides.

 

„Hab ich Ihnen nicht gesagt, wenn Sie sich anstrengen, wird noch einmal was aus Ihnen?“, fragte Miss Carmichael dann als Orlando und ich uns wieder verabschiedeten. Wir waren schon spät dran und es war sicherlich nicht gut zu spät zu kommen. Orlando nickte nur lachend und erzählte mir dann im Auto, dass diese alte Dame schon vor einigen Jahren seine Karriere vorhergesehen hatte. Sie hatte damals, nachdem er einen Magenkrampf vorgespielt hatte, um nicht am Sportunterricht teilnehmen zu müssen, gesagt, er würde einmal ein berühmter und erfolgreicher Schauspieler werden, wenn er so weitermachte, und das war er ja auch geworden.

 

Wir hatten uns gerade wieder auf den Weg zu Orlandos Familie gemacht, als ich auf einmal ein bekanntes Gesicht am Straßenrand sah. Die Frau war vielleicht zehn Jahre jünger als mein Vater, aber die Ähnlichkeit zu ihm war nicht abzustreiten. Neben ihr lief eine weitere Frau, die in unserem Alter sein durfte, und auch sie hatte gewisse Züge meiner väterlichen Familie. Leider reagierte ich zu spät, aber bei der älteren Frau musste es sich einfach um Tamara handeln, meine Großcousine.

 

„Schon lustig, wenn man hier durchfährt und so viele bekannte Gesichter sieht“, murmelte Orlando, doch er sah mich dabei nicht an. Er konnte also nicht bemerkt haben, wie ich auf Tamara reagiert hatte. Aber ich sah, wie er sie ihm Rückspiegel beobachtete. „Das waren Lizzy Jefferson und ihre Mutter, sie war in meinem Jahrgang. Sie war echt verrückt“, erklärte Orlando dann, ohne dass ich ihn etwas gefragt hatte, und ich sah ihn mit großen Augen an.

 

„Wenn du die Frauen meinst, die gerade an der Ampel gestanden haben, das war meine Großcousine, zumindest die Ältere“, meldete ich mich zu Wort und das Auto wurde unweigerlich langsamer, als Orlando erstaunt den Fuß vom Pedal nahm. Anscheinend hatte er tatsächlich meine Großcousine gemeint und dem Namen zufolge musste seine Klassenkameradin dann mein Urgroßcousine sein. Tamara hatte einige Jahre nach meinen Eltern geheiratet und ich wusste auch, dass sie eine Tochter bekommen hatten, aber wir hatten sie nicht oft besucht. Ich hatte Lizzy nur einige Male gesehen und damals war ich noch sehr klein gewesen. Aber wenn Orlando Lizzy kannte, dann war es tatsächlich möglich, dass meine Grandma Recht hatte.

 

Vielleicht war Orlando der kleine Junge von damals gewesen. Der Einzige, der je Ramses hatte spielen dürfen. Vielleicht hatte ich ihn ja tatsächlich bereits früher schon einmal gesehen. Ich hoffte inständig, dass ich mich seitdem verändert hatte. Ich wollte nicht, dass Orlandos Mutter und seiner Schwester direkt ins Gedächtnis kam, wie ich damals gewesen war.

 

„Moment, du bist Lizzys … Du bist mit ihr verwandt?“, fragte Orlando ungläubig, als das Auto vor dem Haus seiner Mutter zum Stehen gekommen war. Er sah mich verwundert und nachdenklich an. Wahrscheinlich liefen die Zahnräder in seinem Gehirn gerade heiß. „Dann, dann kennen wir uns schon ewig!“, rief er auf einmal aus und strahlte mich an. „Du bist das kleine Mädchen vom Spielplatz! Warum hast du das nie gesagt?“ Ich sah in skeptisch an. Glaubte er wirklich, dass ich mich daran erinnern konnte? Wenn er es konnte, musste er doch wissen, dass ich damals höchstens 6 Jahre alt gewesen war, und da konnte man sich wirklich nicht mehr an viel erinnern. Doch bevor ich ihm eine Antwort geben konnte, öffnete sich auch schon die Eingangstür des Hauses und Orlandos Mutter kam ihm entgegen gelaufen.

 

„Frohe Weihnachten! Frohe Weihnachten!“, rief sie überschwänglich und ich kam nicht umhin, leicht zu lächeln. Es war einfach lustig, wie sie versuchte, durch den leichten Schnee zu stapfen, nur mit ihren Hausschuhen an.

 

„Mom, das ist Teti. Teti, das ist meine Mutter“, stellte er uns vor und entgegen aller Erwartungen umarmte sie mich direkt stürmisch.

 

„Hallo, mein Kind! Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Fahrt.“ Ich war so überrascht von der Reaktion von Orlandos Mutter, dass ich ihr nicht antworten konnte und Orlando war anscheinend so glücklich, dass er es auch nicht tat. Erst als er Seth aus dem Auto geholt hatte und er zu seiner Grandma lief, ließ sie wieder von mir ab. Es war eindeutig ein komisches Gefühl, direkt so begrüßt zu werden. Damit hatte ich nicht gerechnet. Im Haus kamen uns schon zwei Jungs entgegengerannt, die Orlando dann umgehend für sich beanspruchten und ihn über seine neuen Filme ausquetschten. Orlandos Mutter führte mich unterdes sanft in die Küche, wo eine weitere, jüngere Frau stand.

 

„Hi, ich bin Samantha, aber nenn mich doch Sam“, stellte sie sich vor und ich konnte mir denken, dass dies Orlandos Schwester war und die beiden Jungs wahrscheinlich ihre Söhne. Ich schüttelte ihr kurz die Hand, während sie mir ein Glas Sekt gab.

 

„Es ist schön, dich endlich einmal vor uns zu sehen“, seufzte Orlandos Mutter fröhlich und ich hatte das Gefühl, sie würde mich am liebsten in Stein meißeln und in ihr Wohnzimmer stellen, so sah sie mich an. Wie ein Geist, der endlich Wirklichkeit geworden war.

 

„Verzeih ihr. Orlando hat so viel über dich erzählt. Wir kennen dich wahrscheinlich besser als du selbst“, lachte Samantha, als ihre Mutter sich wieder gefangen hatte und sich Seth zugewandt hatte. Samanthas Gesicht war warmherzig und gutmütig und ich sah ihr an, dass ich mich sicherlich gut mit ihr verstehen würde. Ebenso schien sie mir nicht aufdringlich zu sein wie andere Schwestern, die gerade die Freundin ihres Bruders kennen lernten. „Du tust ihm und Seth wirklich gut“, sagte sie, als wir gemeinsam beobachteten, wie Orlando mit den drei Jungs herumtollte und lachte. „Ich habe Orlando selten so ausgelassen gesehen.“

 

Nach dem ganzen Stress, den seine Arbeit mit sich brachte, tat es gut, ihn auch einmal so zu sehen. Es gab nur wenige Tage, an denen er seine Arbeit wirklich einmal beiseitelegen konnte. Selbst heute war es ihm nicht komplett gelungen. In diesem Moment jedoch schien er seit langem wieder einmal er selbst zu sein. Nirgendwo lauerten Fotographen auf ihn oder Reporter, die unbedingt eine Frage beantwortet haben wollten. Hier war nur seine Familie, niemand sonst.

 

„Kann ich dir bei etwas helfen, Sonia?“, fragte ich höflich, als sie und Sam begannen den Tisch zu denken und Sam drückte mir direkt einige Teller in die Hand, die ich auf den Tisch stellen sollte. Ich war ihr dankbar dafür. Ich hatte schon befürchtet, sie würden mich wie eine Art Ehrengast behandeln, der einfach nur zusah, während die anderen arbeiteten, aber das wollte ich nicht.

 

Während wir den Tisch deckten, beobachtete ich weiterhin Orlando, wie er ausgelassen mit den drei Jungs tobte. Ich fragte mich einen Moment, wo wohl Samanthas Mann war, aber dann fiel mir ein, dass Orlando mir erzählt hatte, dass ihr Mann ein wichtiger Geschäftsmann war. Meistens konnten diese Art Väter an Weihnachten nicht bei ihrer Familie sein und die Frauen fanden sich damit ab, weil sie nun einmal das Geld nach Hause brachten. Nach einer Weile verlagerten die Jungs das Spiel nach draußen und veranstalteten eine Schneeballschlacht, während Orlando versuchte mit Seth einen Schneemann zu bauen. Es erwärmte mein Herz, Vater und Sohn einmal wieder so innig zu sehen und es freute mich, dass Seth seinem Vater seine Abwesenheit nicht übel nahm. Der Kleine war wahrscheinlich noch viel zu klein, um das alles zu verstehen, und ich hoffte inständig, dass er während seiner Pubertät nicht anfing, Orlando Vorwürfe zu machen.

 

Als wir fertig waren den Tisch zu decken und es immer noch ein bisschen Zeit war, bis das Essen aus dem Ofen kam, ging ich nach draußen zu den Jungs, um Orlando und Seth eine Möhre für ihren Schneemann zu bringen. Leider wurde ich dabei von einigen Schneebällen getroffen und war bereits innerhalb weniger Minuten beinahe selbst ein Schneemann. Das „tollste“ an der ganzen Sache war, dass nicht nur die beiden Jungs von Samantha mich mit Schneebällen bewarfen. Nein, auch Orlando meinte, seine Kindheit wieder aufleben zu lassen und schmierte mir eine Hand voll Schnee regelrecht ins Gesicht. Natürlich versuchte ich mich unter Lachkrämpfen zu wehren, aber ich landete nur, das Gleichgewicht verlierend, im Schnee. Doch ich ging eindeutig nicht alleine unter, sondern riss Orlando mit in die vermeintlichen Tiefen des Schnees. Für den Bruchteil einer Sekunde war es mir schon fast egal, wo ich lag, denn Orlando lag leicht über mich gestützt auf mir und sah mir breit lächelnd in die Augen. Aber das hielt wie gesagt nur den Bruchteil einer Sekunde an und dann sprang ich förmlich auf, weil es unheimlich kalt und nass wurde.

 

„Ich denke, du solltest unbedingt deine nassen Klamotten ausziehen“, flüsterte er mir verführerisch ins Ohr und mir wurde augenblicklich etwas wärmer.

 

„Das werde ich auch, aber ich brauche eindeutig nicht deine Hilfe dabei, Mister Bloom“, antwortete ich durch zusammengepresste Zähne und ließ ihn draußen stehen. Glücklicherweise war Samantha für einige Tage angereist und konnte mir, bis meine Kleider auf der Heizung getrocknet waren, eine Hose und ein Hemd von sich ausleihen. Mir war es in gewisser Weise unangenehm, sie aber hatte damit überhaupt kein Problem.

 

„Wie war deine erste Zeit im Museum?“, fragte Sam dann, als wir alle zusammen am Esstisch saßen und Sonia die Gans anschnitt. Es war ein Festmahl, wie ich es nur selten erlebt hatte. Meine Eltern feierten Weihnachten nicht in dem Ausmaß, wie es eine normale Familie vielleicht tat. Wir hatten ja das Restaurant und waren auch nicht sonderlich gläubig. Hirchop und ich hatten Geschenke bekommen, einfach nur, weil alle Kinder an Weihnachten Geschenke bekamen, und damit war Weihnachten eigentlich schon vorbei gewesen. Als wir älter wurden, hatte sich auch das relativiert. Hier, bei Familie Bloom, war Weihnachten etwas anderes, es bedeutete etwas anderes. Hier war es das Familienfest, das es auch bei anderen Familien rund um den Globus war. Hier saß man zusammen, unterhielt sich und zeigte sich gegenseitig, wie wichtig einem jedes einzelne Familienmitglied war.

 

„Am Anfang war es etwas schwer. Die meisten dort sind schon ziemlich alt und wollen einfach nicht akzeptieren, dass es jemanden unter ihnen gibt, der schon in so jungen Jahren einen Erfolg feiern konnte, während manche von ihnen selten außerhalb der Mauern des Museums sind“, erklärte ich und erinnerte mich direkt an den ersten Forschungsleiter, mit dem ich eine kleinere Forschung über einige alte Maya-Artefakte durchgeführt hatte. Er hatte stundenlang davon geredet, dass es in unserem Beruf nur auf Erfahrung ankam. Wer keine Erfahrung hatte, war laut ihm ein niemand. Wenn man 20 oder 30 Jahre in diesem Beruf arbeitete, dann begann man sich langsam einen Namen zu machen. Das Lustige war, dass nur wenige seinen Namen kannten und so wie er aussah, war er schon ein Artefakt für sich.

 

„Einige von Tetis Funden sind jetzt auch in London“, warf Orlando ein und ich sah ihn an. Um ehrlich zu sein fürchtete ich, dass seine Familie nun noch einmal die Geschichte hören wollte, wie ich zu diesem Fund gekommen war, aber glücklicherweise schienen sie zu wissen, was passiert war, und hielten sich lieber bedeckt.

 

„Ist das da hinten Sam oder Orlando?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln und lenkte unsere Aufmerksamkeit auf einige Bilder auf dem prasselnden Kamin. Als Orlando den Kopf in die Hände sinken ließ, wusste ich, dass er es sein musste, und anscheinend hatte ich einen wunden Punkt getroffen.

 

„Das ist Orlando. Da war er ungefähr drei Monate alt. Er war einige Wochen zu früh auf die Welt gekommen und hatte länger im Krankenhaus bleiben müssen als ich, damit sie sicher gehen konnten, dass sich bei ihm alles richtig entwickelte“, begann Sonia und ich sah, wie sie bei diesem Thema aufblühte. Sie strahlte regelrecht und ich sah ihr an, wie unheimlich stolz sie auf ihren Sohn war. „Dein Orlando war sehr schwierig als Kind. Es hatte schon mit der Geburt begonnen. Der junge Mann wollte sich nicht komplett drehen und sie mussten dann einen Kaiserschnitt machen. Damals war das noch nicht solch eine Routine wie heute und ich hatte fürchterliche Angst“, erklärte sie weiter und ich merkte, dass genau das der Punkt war, der Orlando unangenehm war. Wahrscheinlich tat es ihm in gewisser Weise leid, seiner Mutter solche Angst und, wie ich mir dachte, sicherlich auch Schmerzen bereitet zu haben. Ich hatte schon oft gehört, dass eine Steißlage sehr schmerzhaft für die Mutter war und das in vielen Fällen ein Kaiserschnitt unumgänglich war.

 

„Hier, das ist Orlando bei einem Urlaub in Bordeaux, wir waren oft dort. Es war unser Lieblingsurlaubsort. Ich glaube, wir waren 5 oder 6 Jahre hintereinander dort. Sammy hat Bordeaux nicht so sehr gemocht.“

 

„Ich mochte die Franzosen nicht“, warf sie zur Erklärung ein.

 

„Und das sind die beiden zusammen am Strand“, erkläre Sonia, als sie langsam die Bilder auf dem Kaminsims entlang ging. Es war schön, auch einmal etwas aus Orlandos Kindheit zu sehen. Zu sehen, wie er aufgewachsen war, wie er als normaler Junge gewesen war und nicht als der berühmte Schauspieler, der er nun war. Was mir auffiel war, dass Seth seinem Vater doch ähnlicher sah, als ich gedacht hatte, und das war wunderbar.

 

„Aber du hast dich nicht viel verändert. Ich kann dich auf jedem einzelnen Bild erkennen“, sagte ich ihm, als wir am Ende dieser Bilder angelangt waren. Orlando lächelte mich an. Sicherlich freute auch er sich, dass ich nun wieder etwas mehr über ihn wusste und auch ich war froh, nun auch das Gesicht des jungen Orlando zu kennen.

 

„Mom, an meinem achten Geburtstag, hatte ich da nicht auch Lizzy Jefferson eingeladen?“, fragte Orlando gedankenverloren, doch seine Mutter antwortete nicht. Dann ging sie auf einmal zu einer ihrer Kommoden im Wohnzimmer und kramte darin herum. Sie suchte und suchte und es sah nicht so aus, als würde sie finden, was sie suchte, und Sam und ich entschieden schon einmal den Tisch wieder abzuräumen.

 

„Da ist es ja!“, rief sie nach einer geschlagenen Viertelstunde auf einmal aus. Sam und ich waren bereits fertig mit Abräumen gewesen und hatten uns zusammen mit Orlando und den Jungs vor den Kamin gesetzt. „Ich wusste, dass ich es noch habe.“ Sonia wedelte mit einem Fotoalbum herum und setzte sich dann zu uns. Ich war definitiv gespannt, was ich nun alles zu sehen bekommen würde. Am Anfang des Albums, dass mit dem Titel „Orlando“ beschrieben war, klebten einige Bilder von der schwangeren Sonia, wie Sam an ihrem bereits sehr gewölbtem Bauch stand und mit ihm redete. Dann folgten einige Bilder aus dem Krankenhaus und weitere Kinderbilder von Orlando.

 

„Ah, jetzt kommt es“, kommentierte sie, als sie eine weitere Seite des Albums umblätterte und auf der Seite „Geburtstage“ geschrieben stand. Sie blätterte noch ein, zwei Seiten um und blieb dann auf einmal bei einer Seite stehen.

 

„Hier, das ist Lizzy und ich glaube, das war dein 8 Geburtstag“, erklärte Sonia und zeigte auf die zu sehenden Bilder. „Sie hatte sogar noch jemanden mitgebracht. Ihre kleine Cousine, die zu dem Zeitpunkt zu Besuch gewesen war. Du hattest sie auf einem Spielplatz getroffen und sie einfach mit eingeladen, obwohl du sie eigentlich gar nicht gekannt hattest.“ Ich merkte, wie ein komisches Gefühl sich in mir ausbreitete, eine Art Vorahnung. „Die Kleine war jünger als ihr, aber du hast so wunderbar mit ihr gespielt. Auch auf deinem Geburtstag hast du dich rührend um sie gekümmert, hast sie jedem deiner Freunde vorgestellt. Ich glaube …“ Sie hielt inne und blätterte eine Seite weiter. Mir stockte der Atem und ich sah, wie augenblicklich alle Blicke auf mir lagen.

 

Unter der Überschrift „Zufällige Freundschaft“ prangte ein etwas größeres Bild. Darauf waren zwei Kinder zu sehen. Ein Junge, frech grinsend und seinen Arm um ein jüngeres Mädchen mit etwas dunklerer Haut und einer etwas gekrümmten Nase gelegt. Und sie hatte diesen Blick, diesen Blick, der unverkennbar mit einem einzelnen Menschen verbunden war: Mit mir.

 

„Unglaublich“, murmelten Sonia und Sam beinahe gleichzeitig und Orlando sah mich nur vollkommen verwundert an. Wahrscheinlich fragte er sich, warum ich ihm nicht schon früher davon erzählt hatte, aber ich konnte mich ja nicht daran erinnern. Die ersten 6 oder 7 Jahre meines Lebens waren beinahe komplett ausradiert und nur noch sehr schemenhaft in einer Ecke meines Gehirns verstaut. Nicht, dass ich mich nicht daran erinnern wollte, im Gegenteil, ich hätte viel dafür gegeben, mich daran erinnern zu können, aber es war einfach weg.

 

„Im Grunde verlängert das die Zeit, die wir uns kennen, von 4 auf 18 Jahre“, brach Orlando die Stille, die sich nun ausgebreitet hatte. Ich konnte es immer noch nicht fassen, mich auf diesem Kindheitsbild von Orlando zu sehen. Das konnte doch nicht wirklich wahr sein. So was passierte doch immer nur in irgendwelchen schnulzigen, mit Klischees behafteten Filmen und nicht in der Realität.

 

„Mom, Sammy, es gibt da noch etwas, was wir euch erzählen wollten“, lenkte Orlando ein, als es schon dunkel geworden war und Seth langsam vor lauter Müdigkeit quengelte. „Teti und ich wir … Ich habe sie gefragt, ob sie mich heiraten will.“ Die Worte sprudelten schneller aus Orlando heraus, als ich gedacht hatte. Doch Sonia und Sam hatten ihn verstanden. Im ersten Moment sahen sie uns etwas verwundert an, doch dann standen sie sofort auf und beglückwünschten uns. Sonia wollte direkt mit der Planung der Hochzeit anfangen, aber Orlando konnte sie zurück halten und ihr klar machen, dass wir mit der Hochzeit noch mindestens ein halbes Jahr warten wollten. Sie verstanden, dass ich mich hier in England erst wieder einleben musste, dass ich in meinem neuen Job Fuß fassen wollte, bevor ich heiratete.

 

„Danke für den wunderbaren Tag, Sonia“, verabschiedete ich mich noch eine Stunde später dann von Orlandos Mutter. Es war wirklich alles anders gelaufen, als ich befürchtet hatte. Die beiden Frauen waren wirklich nett gewesen und ich hatte mich wunderbar amüsiert und einiges erfahren, von dem ich nie etwas geahnt hatte.

 

 

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