top of page

Kapitel 46

 

Alte Gewohnheiten

 

 

 

 

Mit meinem Handy in der Hand saß ich gerade am Strand vor Orlandos altem Haus. Ich wusste nicht, was mich dorthin gebracht hatte. Ich hatte erst bemerkt, wo ich hin fuhr, als der Bus schon beinahe dort war. Eigentlich hatte ich mit Bahad nur in den Park gewollt, aber der Strand war natürlich auch gut. Bahad liebte es den Wellen hinterher zu jagen und da sich gerade der Frühling ankündigte, war das Meer auch noch relativ ungestüm und wurde vom Wind an die Küste gedrängt.

 

Ich musste daran denken, wie du Jungs, also Elijah, Billy, Dominic, Sean und Orlando, hier vor 2 Jahren gesurft hatten. Wie alle außer Orlando keine einzige Welle überlebt hatten. Natürlich es war für sie das erste Mal gewesen, dass sie auf dem Brett gestanden hatten, und sie waren bei den Malen danach immer geschickter geworden, aber es war ein lustiger Tag gewesen.

 

Maria war auch dabei gewesen.

 

Sie fehlte mir. Sie war nun schon seit vielen Wochen nicht mehr unter uns und es war immer noch ein Schock für mich, wenn ich darüber nachdachte. Oft erwischte ich mich dabei, wie ich mein Handy rauskramte um ihr eine SMS zu schreiben oder sie anzurufen. Aber Hirchop hatte ihre Nummer bereits eine Woche nach der Beerdigung aus meinem Handy gelöscht. Ich hatte es nicht übers Herz gebracht. Das einzige, was ich gemacht hatte, war, mir mein Lieblingsbild von Maria auf dem Handy zu speichern. So hatte ich sie immer bei mir. Das Bild war eher zufällig entstanden. Ich erinnerte mich noch genau an diesen Moment.

 

An ihrem Geburtstag vor 4 Jahren hatten wir für sie eine riesige Überraschungsparty organisiert. Natürlich hatte ich die Aufgabe gehabt, sie an den Ort zu bringen, wo alle anderen auf sie warteten, und hatte sie so nicht mit überraschen können und konnte auch ihr Gesicht nicht sehen. Ich hatte Rian beinahe gezwungen, in dem Moment, wo das Licht anging, ein Foto von Maria zu machen, und es hatte sich gelohnt. Ihr Blick war einmalig. Sie strahlte übers ganze Gesicht, während sie gerade ungläubig ihren Kopf schüttelte. Ihre blaugrauen Augen stachen auf diesem Bild so heraus, dass es beinahe so aussah, als seien sie nachträglich bearbeitet worden, aber das war nicht der Fall gewesen.

 

Die einmaligen Augen waren das, was Maria mit ihrem Mann gemeinsam hatte. Natürlich, sie und Elijah hatten nicht geheiratet, aber da ich mir sicher war, dass sie Ja gesagt hätte, war er für mich ihr Mann und somit wäre er so etwas wie mein Schwager geworden, denn Maria war für mich mehr als eine Schwester. Sie war meine bessere Hälfte gewesen, die Person, die alles über mich wusste, und das über die letzten sieben Jahre hinweg.

 

Der doch etwas kühle Wind trocknete die Tränen, die meine Wangen nun wieder hinunterliefen, sofort. Warum hatte das passieren müssen? Ich merkte,wie ich nun wütend wurde. Ich griff mit meinen Händen in den Sand und packteihn mir. Ich presste die Hände zu Fäusten zusammen und der Sand rieselte aus ihnen heraus. Ich hatte diese einmalige Entdeckung gemacht, hatte diesen verborgenen Raum gefunden, in dem tatsächlich noch eine Mumie lag. Und dann, dann war meine beste Freundin genau dort, ohne eigentlichen Grund, nur um mich zu retten, umgebracht worden. Ich würde das Geräusch nie vergessen, als sie gegen den Sandstein geprallt und auf den Boden gefallen war. Ebenso würde ich nie vergessen, wie es aussah, als ich die Taschenlampe auf die Stelle gerichtet hatte, wo sie gegen den Stein geprallt war. Das Blut,das dort hinabgelaufen war und das dann neben ihrem Kopf eine Lache gebildet hatte, würde mich den Rest meines Lebens verfolgen.

 

Meine Augen begannen zu brennen und ich erwachte aus meiner Trance. Auf einmal merkte ich, wie mein Handy in meiner Hosentasche vibrierte und leise klingelte.

 

„Hey, ich wollte nur Fragen, wie es dir geht“, hörte ich eine bekannte Stimme. Ich musste lächeln. Er wusste wirklich immer, wenn mich etwas beschäftigte. Er schien einen siebten Sinn dafür zu haben, selbst wenn er meilenweit weg war, zu spüren, wenn etwas nicht stimmte. Aber das hieß ja nicht, dass ich ihm die Wahrheit verraten und ihn nervös machen musste. Ich wusste, wenn ich ihm jetzt erzählte, was ich gerade wirklich durchmachte, er hätte wahrscheinlich sein Set in Australien verlassen und wäre umgehend in einen Flieger nach Wellington gestiegen.

 

„Es geht mir gut … alles in Ordnung. Wie ist die Kinderbetreuung?“, versuchte ich das Thema zu wechseln.

 

„Ganz in Ordnung. Nicht so gut wie du, aber wir werden auch mit der Notlösungklarkommen.“ Ich hörte in seiner Stimme, dass es tatsächlich eine Notlösung war. Er hätte am liebsten mich dort gehabt, aber ich war mir nicht sicher, ob es nicht aus purem Eigennutz war. „Wie ist der neue Professor?“

 

„SIE ist ganz in Ordnung. Ziemlich nette Frau, auch wenn sie schon was älter ist. Aber sie hat Ahnung von dem, was sie sagt und tut. Sie war beeindruckt von meinem … Fund.“ Es war immer noch schwer darüber zu reden und darauf stolz zu sein, aber das war nur verständlich. Viele meiner Kommilitonen hatten mich am ersten Tag zurück in der Uni ausgefragt, aber Samantha, eine derjenigen, die auch mit in Ägypten waren, schirmte mich von allen ab. Sie hielt mir den Rücken frei. Sie verstand mich, da ihre beste Freundin vor einigen Jahren bei einem Amoklauf umgebracht worden war. Sie verstand, was ich durchmachte, und wollte mir helfen. Ihr hatte damals niemand wirklich geholfen. Sie war in der Masse der Opfer und Angehörigen einfach untergegangen, durch das Netz gefallen.

 

„Ich muss auflegen, aber ich rufe dich später noch mal an“, versprach er und dann legte er auf. Womöglich musste er wieder zurück zum Set. Ich hatte noch nicht ganz aufgelegt, da begann mein Handy schon wieder zu klingeln. Es war Hirchop. Wahrscheinlich machte er sich wieder Sorgen um mich. Als ich abnahm hörte ich, dass er im Auto saß. Er wollte mich abholen und wieder nach Hause bringen. Ich verdrehte meine Augen. Bereits nach meiner Vergewaltigung war er übervorsichtig gewesen. Doch jetzt, jetzt war er beinahe unausstehlich. Ich musste dem ein Ende machen, musste ihm klar machen, dass ich kein rohes Ei war. Natürlich, mir waren einige schrecklichen Dingewiderfahren, aber ich hatte alles überlebt. Natürlich, die Ereignisse würden wahrscheinlich nie vergessen sein und für den Rest meines Lebens als Albträume durch meinen Kopf spuken, aber so lange ich wach war, konnte ich sie zumindest in die hinterste Ecke meines Bewusstseins drängen. Mittlerweile hatte ich auch gelernt mit meiner Panik umzugehen.

 

Immer, wenn ich merkte, dass sie aufstieg, rief ich mir ins Gedächtnis, dass Paul die nächsten 10 oder 15 Jahre im Gefängnis versauern würde und Astrateverschwunden war.

 

„Hir, das geht so nicht“, sagte ich als er 10 Minuten später schon auf der Straße anhielt und die Beifahrertür öffnete. „Ich bin erwachsen und ich brauche keinen Aufpasser.“ Mein Bruder sah mich mit hochgezogener Augenbraue an, während ich erst Bahad ins Auto hob und dann selbst einstieg. „Ich meine es ernst, Hirchop. So, wie ihr alle euch verhaltet … so werde ich nie vergessen können, was passiert ist. Ihr erinnert mich immer wieder daran, indem ihr mich ständig kontrolliert.“

 

„Teti, ich … Ich habe jetzt schon zwei Mal mit ansehen müssen, wie dir sehr wehgetan wurde und ich nicht auf dich achten konnte. Ich bin dein großer Bruder, es ist eigentlich meine Pflicht darauf zu achten, dass es dir gut geht. Und ich habe versagt. Ich will nicht noch einmal versagen“, erklärte er während er langsam losfuhr. Ich blickte aus dem Fenster hinaus, dem Sonnenuntergang entgegen. Natürlich konnte ich ihn in gewisser Weise verstehen, aber er musste auch verstehen, dass ich meine Freiheit brauchte.

 

„Wir sollten mal wieder unseren Bruder-Schwester-Tag einhalten“, murmelte er dann gedankenverloren. Ich wusste, er nahm sich meine Bitte zu Herzen und wahrscheinlich war dieser Vorschlag so etwas wie ein Kompromiss. Um ehrlich zu sein hatte ich das Gefühl überhaupt nicht mehr zu wissen, was in den letzten beiden Jahren so mit Hirchop los war. Hatte es Mädchen gegeben, mit denen er vielleicht ausgegangen war? Hatte er wieder neue Gerichte erfunden oder irgendwo gesehen? Ich sah ihn etwas schuldig an. Wie konnte ich meinen eigenen Bruder nur so vernachlässigen und warum hatte er sich nicht schon längst darüber beschwert?

 

„Ja, das ist eine tolle Idee, Hir. Und weißt du was? Heute ist Montag, Bruder-Schwester-Tag“, sagte ich lächelnd. Natürlich wusste ich, dass heute nicht Montag war, aber das war mir jetzt egal. Es war Montag, weil ich jetzt einen Bruder- Schwester-Tag haben wollte. Ich wollte das aufholen, was ich verpasst hatte. Hirchop verstand, was ich meinte, und nickte nur lächelnd.

 

„Also, wohin soll’s gehen?“, fragte er, während wir uns langsam wieder der Innenstadt näherten.

 

„Wie wär’s mit dem Green Parrott? Da können wir in Ruhe reden“, schlug ich vor und Hirchop stimmte mir zu. Er wusste, dass ich mittlerweile viele der Örtlichkeiten in Wellington besser kannte als er, und er vertraute meinem Urteil.

 

Im Green Parrott angekommen wurde ich direkt freundlich begrüßt und man gab uns einen der etwas abseits gelegenen Tische. Den Tisch hatten wir auch immer gehabt, wenn wir mit Viggo und den anderen hier her gekommen waren. Die Bilder an der Wand zeigten, wie oft Viggo hier gewesen war und was er hier alles gemacht hatte. Manchmal hatte er sein Skript gelesen, manchmal hatte er aber auch ein bisschen auf seiner Gitarre herumgezupft, gesungen oder gezeichnet. Auf einem Bild war er sogar in voller Aragorn-Montur zu sehen und immer, auf jedem Bild, hatte er sein Schwert dabei.

 

„Ihr hattet viel Spaß zusammen, nicht wahr?“, fragte Hirchop, der gebannt auf die Bilder sah, in deren Hintergrund auch manchmal ich oder Maria zu sehen waren.

 

„Ja, das hatten wir. Dieses Jahr, das ich mit diesem Menschen verbracht habe, wird immer das Beste Jahr meines Lebens bleiben, und ich werde keinen von ihnen je vergessen können. Sie werden immer einen Platz in meinem Herzen haben, immer.“ Und das war nicht übertrieben. Zu Viggo und Orlando hatte ich eine besondere Beziehung, Elijah war der Mann meiner verstorbenen besten Freundin und Billy und Dom waren sehr gute Freunde geworden. Auch die anderen, Bernhard, Miranda, Karl, Ian, Sean und Sean würde ich nicht vergessen. Wir hatten so viel zusammen gelacht, unzählige Stunden auf das Wetter, die Technik oder anderes zusammen gewartet.

 

„Ich freue mich, dass du solche Freunde gefunden hast, und ich danke wem auch immer dafür. Es -“ Doch Hirchop wurde auf einmal unterbrochen. Eine junge Frau war zu uns an den Tisch gekommen und begrüßte ihn freundlich. Er unterhielt sich einen Moment mit ihr, dann stellte er mich ihr vor.

 

„Teti, das ist Eileen. Wir haben uns in einem Kochkurs kennen gelernt. Eileen, dass ist meine Schwester Teti“, sagte Hirchop lächelnd und ich konnte ihm ansehen, dass diese Frau mehr war als nur eine Bekannte, oder dass er das zumindest wollte. Ich schüttelte ihr lächelnd die Hände und auch sie lächelte.

 

„Hirchop hat mir schon einige Menge von dir erzählt“, warf sie ein und blickte auf Hirchop. Auch ihre Augen hatten ein Strahlen in sich. An der Art, wie die beiden sich verhielten, konnte ich erkennen, dass die beiden zwar kein Paar waren, dass es aber wahrscheinlich nicht mehr lange dauern würde. Und ich hatte definitiv nichts dagegen einzuwenden. Sie sah gut aus, war nett und freundlich und teilte anscheinend Hirchops Leidenschaft fürs Kochen.

 

„Ich hoffe, nur Gutes. Die dunklen Geheimnisse der verdrehten Schwester kommen erst später“, scherzte ich und Hirchop sah mich kopfschüttelnd, aber grinsend an. Eileen war im ersten Moment etwas unsicher und schien auf Hirchops Reaktion zu warten. Wahrscheinlich war sie sich nicht sicher, ob er dasselbe für sie empfand. Es war lustig und erfrischend, dieses Schauspiel mit anzusehen, und ich war gespannt, ob und wann die beiden zueinander finden würden. Dann verabschiedete sie sich wieder und versprach aber, Hirchop im Kurs wieder zu sehen.

 

„Interessant“, sagte ich nur mit einem verschmitzten Grinsen, als wir wieder alleine waren. Hirchop wurde direkt rot im Gesicht.

 

„Teti -“

 

„Nein, wirklich. Ich finde es toll. Ich meine, du hattest seit Callie niemanden mehr. Und sie scheint nett zu sein. Ein kleines bisschen überdreht, aber nett“, unterbrach ich ihn und er nickte lächelnd. Ich war wirklich froh, dass mein Bruder anscheinend endlich wieder den Weg zu den Frauen gefunden hatte. Seitdem seine Ex-Freundin Callie ihn verlassen hatte als wir nach Neuseeland gezogen waren, hatte er niemanden mehr gehabt, und ich hatte schon befürchtet, er hätte der Liebe vollkommen entsagt. Dabei wollte ich doch unbedingt Tante werden. „Seit wann läuft denn dieser Kochkurs?“

 

„Seit einem halben Jahr“, sagte er verwirrt und mir klappte mein Mund auf. Das konnte doch nicht sein! Seit einem halben Jahr? Nein, das war unmöglich. Das hätte ich doch mitbekommen müssen. Ich schloss resignierend die Augen. Ich hatte wirklich nichts von Hirchops Leben mitbekommen, gar nichts, wie es schien.

 

„Es tut mir so unendlich leid, Hir! Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, stammelte ich vor mich hin. Es war mir wirklich peinlich und es tat mir unheimlich leid. Er war mein Bruder und ich wusste nicht, was in der letzten Zeit bei ihm so passiert war. Wahrscheinlich hatte er ein paar Mal versucht mit mir darüber zu reden, mir zu sagen, dass er jemanden kennen gelernt hatte, aber ich war nicht für ihn dagewesen.

 

„Du hattest andere Probleme, Te. Ich weiß und verstehe das. Ist schon gut“, sagte er und nahm meine Hand.

 

„Nichts ist gut! Mein Gott, ich bin deine Schwester. Wer außer mir sollte dir in Frauenangelegenheiten denn schon helfen? Ich … ich habe meine Pflicht als Schwester nicht wahrgenommen“, schluchzte ich schon fast.

 

„Dann sind wir jetzt quitt, in Ordnung?“, fragte er und drückte meine Hand noch etwas fester. „Fangen wir noch mal neu an, oder zumindest da, wo wir uns verloren haben.“ Ja, das war mein Bruder wie ich ihn kannte, das war Hirchop. Er hatte immer ein gutes Wort oder eine Lösung parat, wenn irgendetwas nicht stimmte.

 

„Okay, seit wann gehst du mit ihr aus? Gehst du überhaupt schon mit ihr aus?“Die Fragen, die ich ihm stellen wollte, überschlugen sich in meinem Kopf. Er berichtete mir, dass die beiden schon zwei Mal ausgegangen, immer wieder in einem anderen Restaurant essen waren, aber dass nie etwas Ernstes passiertwar. Wie auch?, fragte ich mich innerlich. Für einen Koch war essen gehen sicherlich kein Date. Nichts, was mit der Arbeit zu tun hatte, konnte je ein Date sein. Ich schüttelte leicht meinen Kopf. Mein Bruder hatte echt keine Ahnung davon. Aber was sollte man schon erwarten? Er war ein Mann.

 

„Geh mit ihr ins Kino, etwas trinken, von mir aus auch in den Zoo oder so, aber doch nicht essen. Das erinnert doch nur an die Arbeit, und das verdirbt die Atmosphäre“, lenkte ich ihn in die richtige Richtung und er sah tatsächlich so aus, als hätte er gerade eine Erleuchtung gehabt. Männer hatten wirklich keine Ahnung von so etwas. Wie gut, dass wir Frauen da mitdachten. „Aber sie ist wirklich nett, Hir. Du solltest bald mal was anderes mit ihr machen, sonst geht sie dir noch durch die Lappen“, riet ich ihm und er stimmte mir lachend zu. Direkt schrieb er ihr eine SMS und lud sie in den Zoo ein.

 

Er war zu anständig um sie abzufüllen und danach vielleicht etwas zu tun, was beide vielleicht bereuen würden. Er wollte aber auch nicht mit ihr ins Kino, weil das laut ihm ein Klischee war. Er hatte sich also für den Zoo entschieden und die Idee war in Ordnung. Ich wusste ja, dass Hirchop noch nie jemand war, der etwas Schnelles suchte. Er hatte schon immer nach einer langfristigen Beziehung gesucht, und die begann man nicht mit schnellem Sex.

bottom of page