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Kapitel 38

 

Manchester

 

 

 

 

 

„Tete bubu?“, fragte Seth neugierig. Ich hatte gerade meine Augen wieder aufgemacht. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich langsam eingeschlafen war. Vielleicht auch, weil ich keinen meiner Alpträume hatte.

 

„Ja, Seth, genau. Hat Seth denn auch geschlafen?“, erkundigte ich mich mit einem Seitenblick zu seinem Vater, der nur nickte und meine Hand drückte. Ich sah erstaunt hinunter. Ich konnte mich nicht daran erinnern, seine Hand in meine gelegt zu haben, aber komischerweise stieg in mir keine Unruhe auf.

 

„Ich habe sie während der Sicherheitshinweise einfach genommen. Auf dem Flug bis nach Singapur hast du auch nichts bemerkt“, erklärte Orlando als er merkte, was mich gerade irritierte. Wenn das wirklich so war, hatte ich es tatsächlich nicht bemerkt. Ich hatte seine eigenmächtige Berührung, über die ich keine Kontrolle hatte, einfach zugelassen.

 

„Du hättest dich sehen müssen, Te, wie du während dem Schlaf deinen Kopf auf seine Schulter gelegt hast.“ Nicht auch noch meine Mutter. Ich sah es an ihrem Gesichtsausdruck. Ich kannte sie gut genug, um diesen Ausdruck zu deuten. So hatte sie mich auch schon angesehen, als Dom und ich zusammengekommen waren. Ein Blick, den nur eine Mutter haben konnte, wenn ihr Kind endlich liebte. Ich wollte ihr schon widersprechen, aber ich wusste, es hatte kein Sinn, denn sie waren schon zu viert, inklusive der inneren Teti.

 

Der Vorfall mit Paul hatte meine Gefühle für Orlando nicht verändert. Er hatte nur verändert, wie ich mit Orlando umgehen konnte, und die Sache somit noch komplizierter gemacht. Oder war sie einfacher? Hatte ich jetzt eine Ausrede, ihn nicht zu umarmen, ihm nicht so nah zu kommen, dass ich, wenn ich nicht sowieso immer wieder die Bilder meiner Vergewaltigung vor Augen hatte, die Kontrolle verlor und etwas tat, was wir beide vielleicht bereuen würden? Ich konnte es nicht sagen und ich hoffte, dass ich es nicht herausfinden würde.

 

„Es ist schön, das wieder tun zu können“, flüsterte mir Orlando zu und ich hörte an seiner Stimme, dass er es ernst meinte.

 

„Ich kann mich nicht erinnern, dass du das je einfach so gemacht hast“, antwortete ich leise, aber doch etwas provokanter als ich es wollte. Orlando sah mich mit einem spitzbübischen Grinsen an. Vielleicht hätte ich lieber meinen Mund halten sollen. „Du wirst, denke ich mal, von Manchester weiter nach London fliegen, oder?“ Ich war neugierig und besorgt zugleich. Wenn er tatsächlich nach London weiterflog, würde ich dann tatsächlich bei meiner Großmutter klarkommen? Würde ich mich sicher fühlen, wenn er weg war? Würde ich mich ablenken können, wenn nicht Seth immer um mich herum war?

 

In den letzten Wochen war er eigentlich immer bei mir gewesen und es hatte mir gut getan, „meinen“ kleinen Schatz wieder zu sehen. Ich erinnerte mich noch daran, wie ich ihn nur wenige Stunden nach seiner Geburt im Arm gehalten hatte. Er war so klein und zerbrechlich gewesen, so hilflos. Und jetzt? Er sprudelte nur so vor Energie und es war kaum möglich, den kleinen Wirbelwind ruhig zu halten. Es war gut, dass er, während wir auf einer horizontalen Flugbahn waren, aufstehen durfte. Immer wieder tapste er nach vorne zu den Flugbegleiterinnen und immer, wenn er wieder kam, hatte er irgendein neues Werbegeschenk von British Airways in der Hand. Die jungen Frauen, sie mussten wahrscheinlich in meinem Alter sein, waren über alle Maßen begeistert von dem kleinen Kerl. Er begann also jetzt schon Frauenherzen zu erobern. Wie sollte das dann erst später werden?

 

Ich stellte mir schon bildlich einen Teenager-Seth vor, wie er ein Mädchen nach dem anderen mit nach Hause schleppte und Orlando zum Verzweifeln brachte.

 

„Ja, ich werde weiter fliegen, außer du schaffst das nicht. Aber in 3 Tagen sehen wir uns ja schon wieder.“ Wieder drückte er meine Hand leicht und ein Teil von mir hätte ihm am liebsten gesagt, dass ich es nie wieder ohne ihn schaffen würde. Auch wenn ich die letzten Wochen, in denen er in Neuseeland gewesen war, nicht wirklich so gewesen war wie immer, aber wir beide hatten dennoch viel Zeit miteinander verbracht, und das wollte ein Teil von mir einfach nicht aufgeben.

 

„Nein, flieg ruhig weiter. Ich werde schon damit klarkommen. Außerdem sind wir nach der Landung geschätzte 20.000 km von dem Monster entfernt. Mir wird nichts passieren“, sagte ich mit klarer Stimme. Natürlich lag darin immer noch ein kleines bisschen Selbstüberzeugung, aber ich hatte schon bei unserem Zwischenstopp in Singapur gemerkt, dass es mir besser gegangen war, je weiter ich von Wellington entfernt war. Vielleicht würde ich es tatsächlich schaffen, in England die Geschehnisse etwas hinter mir lassen zu können.

 

„Ich bin wirklich gespannt auf den Film“, warf Maria dann ein um die gerade aufgekeimte Stille zu besiegen. Sie war noch nie ein Freund von Stille gewesen und jedem, den sie kannte, würde zu ihr wahrscheinlich als erstes das Wort Plappermaul einfallen. Natürlich war es etwas besser geworden als sie eigentlich den ganzen Tag nur noch an Elijah dachte, aber sie redete immer noch mehr als gewöhnlich. Wenn eine normale Frau durchschnittliche 20.000 Wörter pro Tag sprach, war bei Maria das normal Level bei geschätzten 40.000 Wörtern, in Hochzeiten konnten es sicherlich auch mal 60.000 sein. Sie war der Homo Sapiens Mariensis und irgendwann würde man wahrscheinlich entdecken, dass ihr Sprachzentrum das 5-fache des Normalen betrug. „Vor allem frage ich mich, wie die ganzen Special Effects aussehen und wie mein Make-up rüberkommt. Ob wohl alles so geklappt hat, wie wir uns das vorgestellt haben? Ich denke schon. Wir haben immerhin gute Arbeit geleistet, und vor allem weiß Peter, was er tut.“

 

„Ich bin sicher“, begann Orlando und sah Maria etwas irritiert an, „dass alles einzigartig werden wird. Peter hat sich sicherlich nicht mit Mittelmaß abgegeben. Und das, was wir bereits gesehen haben, war schon atemberaubend.“ Nickend stimmte ich Orlando zu und machte mich daran, Seth an mir festzuschnallen, denn während Maria und Orlando über den Film redeten, waren wir darüber informiert worden, dass wir in Kürze wieder Landen würden. Ich war froh, gleich endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, aber ich wusste auch, ich musste mich wieder von Orlando trennen.

 

„Es gibt keine Zeitverschiebung mehr zwischen uns, Te. Ich werde dich jeden Tag anrufen, das ist versprochen“, verabschiedete sich Orlando als er seinen nächsten Flieger bekommen musste. Seth schlief in seinem Kinderwagen friedlich und ich wollte ihn nicht wecken. Also verabschiedete ich mich nur von Orlando. Ich wusste ja, dass ich ihn schon in wenigen Tagen wieder sehen würde, auf der Premiere. Aber er und Seth waren nicht die Einzigen, die gingen. Zum ersten Mal seit langer Zeit würde nur meine Familie um mich herum sein und ich wusste noch nicht genau, was ich davon halten sollte. Aber ich merkte, dass es mir auf jeden Fall leichter fiel mich frei zu bewegen, als noch in Wellington. Das einzige, was mir jetzt wirklich fehlte, war mein Hund. Ich hatte Bahad den langen Flug nicht antun wollen und Will hatte sich bereiterklärt, auf ihn aufzupassen. Ich würde nun 3 ganze Wochen ohne ihn sein müssen und ich hoffte einfach, dass er mich noch erkannte, wenn ich ihn wieder abholte.

 

Als wir unsere Freunde dann verabschiedet hatten, mietete mein Vater ein Auto für die nächsten drei Wochen und wir machten uns auf den Weg zu meiner Grandma. Ich musste zugeben, sie war alt geworden. Ich hatte sie, wegen der Entfernung, nun schon seit 5 Jahren nicht mehr gesehen und als ich sie nun wieder sah, tat es mir leid. Die Freude, endlich wieder ihren Sohn und ihre Enkel zu sehen, strahlte in ihren Augen und ich war sicher, dass sie sogar leicht nass wurden.

 

„Hallo! Ich freue mich ja so euch zu sehen!“, sagte sie und ließ uns natürlich direkt ins Haus. Es sah noch alles genauso aus wie ich es in Erinnerung hatte. Die alten Holzmöbel, die Perserteppiche, das alles waren noch dieselben, die ich sogar auf diversen Babyfotos von mir gesehen hatte. Direkt kamen Erinnerungen hoch aus einer Zeit, wo ich noch klein und sorgenfrei gewesen war. Mein Opa hatte mich immer durch den Flur gejagt, als ich noch klein gewesen war, und meine Oma hatte in der Garderobe auf mich gewartet und mich einfach in die Luft gehoben.

 

„Und du hast in dem Film mitgespielt?“, fragte Grandma interessiert als wir alle zusammen beim Abendessen saßen. Ich war froh, dass meine Eltern ihr nichts von der Sache mit Paul erzählt hatten. Ich wollte nicht, dass meine Grandma mich anders behandelte als sie es tun würde. Ich wollte hier einfach wieder ihre kleine Enkelin sein.

 

„Ja und nein. Ja, ich werde auch darin vorkommen. Und nein, es war nicht mein Hauptjob. Eigentlich war ich die Souffleuse und habe auch so geholfen. Ich habe die Skripts herumgebracht, wenn es dringende Änderungen gab“, erklärte ich ihr, doch ich bezweifelte, dass sie das mit ihren 80 Jahren noch wirklich verstand.

 

„Ich hab schon immer gewusst, dass du einmal eine Schauspielerin wirst.“ Das stolze Lächeln auf dem Gesicht meiner Grandma hielt mich davon ab sie zu verbessern. „Schon als du als kleines Mädchen durch die Gänge gelaufen bist und dich für eine ägyptische Prinzessin gehalten hast“, fuhr sie fort und lachte.

 

„Ägyptische Prinzessin?“, fragte ich verwundert nach. Davon hatten meine Eltern mir nie etwas erzählt.

 

„Ja, du hast immer behauptet, du seist eine … Netari oder so. Du bist durch das Haus gelaufen und hast uns alle zu deinem Hofstab gemacht. Dann hast du immer gefragt, wo denn dein Ramses sei. Ich denke mal, du hast von deinen Eltern etwas aufgeschnappt“, erklärte sie. Meine Eltern nickten lachend und fügten noch hinzu, dass ich sogar manchmal die Vorhänge meiner Grandma als Kostüm benutzt hatte.

 

„Niemand durfte deinen Ramses spielen. Wir mussten immer jemand anderes sein, selbst dein Bruder durfte es nicht“, erklärte mein Vater mit einem Lächeln.

 

„Der kleine Junge bei Dana, er durfte Ramses sein“, warf meine Grandma ein und ich sah sie erstaunt an. „Deine Großtante Dana hat in Canterbury gelebt, als du noch klein warst, und ihr habt sie einmal besucht. Dir war so langweilig, dass wir mit dir auf einen Spielplatz gegangen sind und da hast du dich mit diesem kleinen Jungen angefreundet. Er war etwas älter als du, aber du bist direkt auf ihn zugelaufen und hast gesagt ‚Du bist Ramses und ich bin Nefertari.‘ Und dann seid ihr beide nicht mehr zu halten gewesen.“ Mit offenem Mund starrte ich meine Grandma an.

 

Meinte sie das gerade ernst? Ich konnte mich daran nicht mehr erinnern, wahrscheinlich war ich damals noch zu klein gewesen. Aber wenn sie recht hatte … Canterbury hatte sie gesagt … Dort war Orlando aufgewachsen. Er hatte es mir vor langer Zeit einmal gesagt. Vielleicht war Orlando dieser kleine junge gewesen, mit dem ich gespielt hatte. Wenn ja und ich hatte niemanden den Ramses spielen lassen außer ihn, dann musste das eine Bedeutung haben, es konnte nicht anders sein. Aber wahrscheinlich würde ich das nie herausfinden, denn immerhin würden wir beide uns nicht mehr daran erinnern können.

 

Das Wochenende bei meiner Oma zeigte uns allen, wie sehr wir die Erholung alle brauchten. Es war zwar eindeutig kälter als ins Wellington, hier war ja immerhin Winter, aber ich freute mich darauf seit vielleicht 5 Jahren wieder eine weiße Weihnacht zu erleben, wie damals als ich noch klein gewesen war. Meine Eltern hatten extra alles so geregelt, dass wir auch über die Weihnachtstage hier in England blieben, denn wir wollten meine Grandma nicht einfach kurz vor Weihnachten wieder verlassen.

 

„Teti, hier ist jemand für dich an der Tür!“, schrie meine Grandma als wir gerade alle beim Essen waren und ich fragte mich, wer das sein konnte. Orlando und Maria waren immerhin gestern nach London geflogen und sonst kannte ich hier niemanden mehr. Als ich jedoch in den Flur trat und die Gesichter zweier Hobbits sah, musste ich lachen. Natürlich, Dom und Billy wohnten hier und Orlando musste ihnen berichtet haben, dass ich bei meiner Grandma zu Besuch war. Dominic wusste ja noch, wo sie wohnte. Er war ja schließlich als Hirchops Freund schon oft genug hier gewesen.

 

„Na, freut ihr euch schon auf morgen?“, fragte ich neugierig als wir alle mit einer warmen Tasse Tee im Wohnzimmer meiner Grandma saßen. Die beiden grinsten über das ganze Gesicht. Ich wusste, dass Orlando ihnen von dem erzählt hatte, was mir passiert war, denn sie waren so rücksichtsvoll gewesen, mir nicht um den Hals zu fallen. Und ich war ihnen dankbar, dass sie mich nicht darauf ansprachen, sondern sich einfach verhielten wie immer.

 

„Aber natürlich. Wer würde sich nicht auf eine gute Merry-und-Pippin-Action freuen“, stellte Billy fest und wir mussten lachen. Ja, die beiden waren noch genauso wie vor einem Jahr. Es war beinahe unvorstellbar, dass es schon ein Jahr her war, seitdem die Dreharbeiten vorbei waren. Mir kam es so vor als hatte ich die beiden gestern erst noch gesehen. Es gab keine unangenehmen Pausen, in denen man nicht wusste, was man erzählen sollte. Wir plapperten einfach drauflos. Auch Hirchop saß dabei und war mehr als glücklich, auch wieder einmal mit Dom reden zu können. Meine Eltern hatten sich allerdings mit meiner Grandma in eine der oberen Etagen zurückgezogen. Sie wollten uns nicht stören und spielten nun vermutlich alle zusammen Karten.

 

„Ich bin wirklich gespannt, was Peter daraus gemacht hat“, bemerkte Hirchop, der ja leider noch nicht mal die Dreharbeiten gesehen hatte. Ich konnte mir nur schlecht vorstellen, wie gespannt er sein musste. Er liebte den „Herr der Ringe“, durch ihn war ich erst daran gekommen. Und nun war er derjenige, der am wenigsten über den Film bescheid wusste. Ich kannte viele der Szenen und wahrscheinlich kannte ich auch einige Szenen, die es nicht in den Film geschafft hatten. Er kannte jedoch nur die Sachen aus dem Trailer.

 

„Werden Liv und Cate auch da sein?“ Ich hatte die beiden Frauen zwar nicht oft am Set gesehen, erforderten ihre Rollen doch keine permanente Anwesenheit, aber ich hatte mich gut mit ihnen verstanden. Sie waren zwei der wenigen Frauen am Set gewesen, wenn man mal von den Rohirrim absah.

 

„Ja, sie sind beide da, denke ich. Ich bin mir nicht sicher, immerhin bekommen wir keine Liste mit den Anwesenden, aber ich wüsste keinen Grund, warum sie nicht da sein sollten. Ich meine, selbst Bernhard, Miranda und Karl werden da sein“, erklärte Dom. Wir saßen noch einige Stunden zusammen bis wir uns dann verabschiedeten. Wir würden uns schließlich am nächsten Tag bei der Premiere wieder sehen.

 

 

 

 

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