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Kapitel 35

 

Verzweiflung

 

 

Schmerzen durchfuhren meinen ganzen Körper, doch ich konnte mich nicht bewegen. Irgendetwas zog mich nach unten, immer tiefer nach unten. Ich spürte förmlich jeden Zentimeter meines Körpers. Was war der Grund für diese Schmerzen? Ich konnte es nicht genau sagen. Ich … Bilder erschienen plötzlich vor meinem inneren Auge. Ein Nazgûl, der mich dicht an einen Baum presste und mein elbisches Kleid aufzureißen schien, dann ein grelles Licht, dann Aragorn mit seinem Schwert.

 

Vollkommen steif saß ich auf einmal mit geöffneten Augen aufrecht im Bett. Ich merkte im ersten Moment gar nicht wo ich war, nur dass ich tatsächlich in keinem Wald war.

 

„Teti, Teti, es war alles nur ein Traum“, versuchte mir eine Stimme zu erklären und auf einmal spürte ich wie Hände meine Arme berührten. Wieder ein Lichtblitz und das, was meine Augen tatsächlich sahen, wurde von einem anderen grausamen Bild überschattet. Ein Mann, der mich packte und mir meine Bluse aufriss. Ich versuchte mich umgehend zu wehren, versuchte den Mann abzuschütteln, indem ich um mich schlug, doch er blieb da und machte einfach weiter, er hörte einfach nicht auf.

 

„Wir brauchen hier ein Beruhigungsmittel!“, schrie eine andere Stimme und wieder spürte ich Hände auf mir, diesmal etwas fester und bestimmender. Ich begann zu schreien und noch heftiger um mich zu schlagen, aber es half nichts.

 

„Miss Kensington, Sie müssen sich beruhigen. Bitte beruhigen Sie sich oder wir müssen Ihnen ein Beruhigungsmittel geben“, sagte die Stimme wieder und ich begann meine Umwelt endlich wahrzunehmen. Die Stimme kam von einem dunkelhäutigen Mann, der versuchte mich an mein Bett zu pressen. Ich wurde noch hektischer.

 

„Vielleicht würde sie sich beruhigen, wenn Sie sie nicht anfassen würden“, hörte ich dann eine etwas entferntere Stimme und in der Tür sah ich Viggo. Er sah den Arzt mit einem drohenden Blick an und dieser ließ mich sofort los. „Sie wurde vergewaltigt und Sie drücken sie an ihr Bett? Was sind Sie bitte für ein Arzt?“, fragte er den Mann beinahe angewidert und kam näher an mein Bett. Erst jetzt merkte ich wie meine Mutter, die direkt neben meinem Bett saß, weinte und dass auch Hirchop und mein Vater da waren. Ihre Blicke waren besorgt und gleichzeitig wütend.

 

„Teti, niemand wird dir etwas tun“, erklärte Viggo ruhig während ich immer noch um mich schlug. Er versuchte ohne eine Berührung immer in Augenkontakt mit mir zu bleiben und je länger mich seine Augen fixierten, desto ruhiger wurde ich. Wenn Viggo da war würde mir nichts passieren. Er hatte mich schon einmal in dieser Situation gerettet und ich wusste, er würde es immer wieder tun, irgendwie wusste ich es einfach.

 

„Mr. Mortenson, wir bräuchten dann noch Ihre Aussage“, bekam ich gerade noch mit, als ein Polizeibeamter in der Tür stand und ich wieder in einen unruhigen Schlaf versank. Immer und immer wieder tauchten diese schrecklichen Bilder auf und ich hatte das Gefühl, nicht aufwachen zu können. Irgendetwas hinderte mich daran, machte mich unglaublich müde und schwer. Ich sah immer wieder, wie dieser Kerl mich langsam auszog und dann einen Lichtblitz und dann Aragorn, also Viggo, wie er mich rettete. Ich war mir sicher, mein Kopf hatte den Rest zum Eigenschutz gelöscht. Der Anfang und das Ende waren schon zu viel für mich.

 

„Wir haben das Beruhigungsmittel jetzt herunter gesetzt. Sie bekommt nur noch eine kleine Dosis. Den Rest kann nur noch die Zeit heilen“, hörte ich wieder eine Stimme und ich merkte, wie das Gewicht, das mich heruntergezogen hatte, leichter wurde, wie ich langsam wieder an die Oberfläche driftete. Ich spürte immer noch die Schmerzen an meinem ganzen Körper, aber sie waren leichter geworden. Als ich langsam die Augen öffnete sah ich, dass meine Familie immer noch um mich herumstand. Aber sie trugen andere Kleidung, sie waren zwischendurch zu Hause gewesen. Wie lange hatten sie mich jetzt schlafen lassen? Wie lange hatten sie mich willentlich diesen Bildern ausgesetzt?

 

Ich spürte genau die Stellen, an denen mich Paul gepackt hatte, spürte die Stelle, mir der er mich erst an die Wand und dann auf den Boden gedrückt hatte. Ich hatte mit zerrissenen Klamotten an einer vollkommen dreckigen Wand gestanden und auf einem verpinkelten Boden gesessen. Ich war dreckig, mehr als dreckig.

 

Innerhalb eines Augenblickes war ich aus dem Bett aufgesprungen und hatte mir sämtliche Zugänge abgerissen. Es interessierte mich nicht, ob meine Beine so sehr schmerzten, dass sie für einen Moment nachgaben und ich einknickte. Es interessierte mich nicht, dass einfach alles an meinem Körper weh tat. Ich musste diesen Dreck abbekommen, musste die Pisse anderer Leute von mir abwaschen, musste das abwaschen, was dieser Kerl mit mir getan hatte.

 

Meine Eltern versuchten erst gar nicht mich aufzuhalten. Wahrscheinlich wussten sie nicht wie. Sie mussten ja Angst haben, dass ich bei der kleinsten Berührung wieder ausrastete und um ehrlich zu sein konnte ich nicht garantieren, dass es nicht passierte. Beinahe panisch rannte ich, auf der Suche nach der Dusche, durch den Gang und öffnete jede Tür, egal ob es ein Patientenzimmer oder eine Abstellkammer war. Als ich die Dusche dann endlich gefunden hatte, machte ich mir gar nicht erst die Mühe, mein Krankenhaushemd auszuziehen. Ich stellte mich einfach so unter die Dusche. Nachdem das Wasser alleine mich schon beinahe aufgeweicht hatte, schnappte ich mir das Stück Seife, das dort noch lang, und schrubbte es über meinen ganzen Körper. Überall hatte ich blaue Flecken, die schmerzten, wenn ich darüber ging, aber der Schmerz war mir egal. Diese Flecken mussten einfach abgehen. Sie mussten verschwinden. Sie waren ein Teil des Drecks an meinem Körper und ich wollte nicht mehr dreckig sein. Ich schrubbte so lange, bis auch die noch intakten stellen langsam rot wurden und schmerzten, aber es war mir egal. Als ich merkte, dass die Seife gegen die Flecken nichts half, versuchte ich es mit meinen Fingernägeln. Vielleicht würde ich den Dreck abkratzen können.

 

„Miss Kensington, damit verletzen Sie sich doch nur selbst“, hörte ich die Stimme einer Krankenschwester hinter mir. Ich ließ mich davon jedoch nicht beirren. Es war mir egal, wenn ich mich verletzte. Ich wollte einfach nur, dass diese Stellen verschwanden, mehr nicht. „Ich brauche dringend Doktor Oldman hier!“, rief die Schwester dann nach draußen und es dauerte nicht lange, da war die Ärztin auch schon mit einer aufgezogenen Spritze da. Als die Ärztin und die Schwester näher kamen, presste ich mich selbst in die hinterste Ecke der Dusche. Sie sollten mich nicht wieder zum Schlafen bringen, sie durften mich einfach nicht anfassen. Ich kratzte verängstigt weiter, während sie sich mir langsam immer mehr näherten.

 

„Teti“, wieder war es Viggo, der plötzlich in der Tür stand.

 

„Sir, Sie dürfen hier nicht rein“, protestierte die Schwester, aber Viggo ließ sich dadurch nicht beirren. Er kam einfach zu mir unter die Dusche, auch vollkommen bekleidet, und kniete sich vor mich. Die Ärztin und die Schwester sahen sich das Schauspiel vollkommen verwirrt an. Er nahm vorsichtig meine mich immer noch kratzenden Hände in seine und ich tat gar nichts. Ich starrte ihn nur mit meinen angsterfüllten Augen an, während das Wasser an uns beiden hinunterlief.

 

„Sie braucht kein Beruhigungsmittel, sie braucht Sicherheit“, sagte er und stand langsam mit mir zusammen auf. Dann schnappte er sich ein Handtuch und legte es über meine nassen Schultern, während die Krankenschwester dasselbe bei ihm tat.

 

„Du hast mich gerettet“, sagte ich leise als er mich klitschnass wieder in mein Zimmer brachte und ich mich vorsichtig in mein Bett legte. „Ich bin so schmutzig, Viggo. Überall klebt Dreck an mir“, jammerte ich weiter und er trocknete meine Haare vorsichtig mit einem Handtuch. Es schien ihm gar nichts auszumachen.

 

„Den Dreck werden wir schon mit der Zeit wieder abbekommen, okay? Aber ich muss jetzt kurz weg. Henry kommt mit dem Flugzeug an und ich muss ihn abholen. Deine Mutter wird auf dich aufpassen, in Ordnung? Sie wird dir nichts tun, das verspreche ich dir.“ Ich sah, wie meine Mutter mit Tränen in den Augen nickte und näher zu mir kam. Sie war verletzt, das konnte ich sehen. Es war zwar keine äußerliche Wunde, aber welche Mutter wäre nicht verletzt, wenn die eigene Tochter einem anderen mehr vertraute als ihr?

 

Dann nahm sie vorsichtig meine Hand und als wieder Bilder durch meinen Kopf zuckten, sah ich noch ein letztes Mal unsicher zu Viggo, der nur nickte. Meine Mutter war eine Frau, natürlich würde sie mir nichts tun. Von Frauen ging keine Gefahr aus, zumindest nicht für mich. Und besonders nicht von meiner Mutter. Tränen stiegen auf einmal auch in meinen Augen auf und meine Mutter ließ schluchzend meine Hand wieder los.

 

„George, Hirchop, ihr müsst furchtbar hungrig sein. Geht doch in der Cafeteria etwas Essen“, sagte meine Mutter dann und wir alle wussten, dass sie das nicht aus Sorge, die beiden würden nicht genug essen, sagte. Ich musste abgetrocknet und umgezogen werden und da konnte sie die beiden Männer nicht gebrauchen, nicht, wenn ihre Tochter so verstört war.

 

„Meinst du, meinst du, wir können dich umziehen und abtrocknen?“, fragte meine Mutter vorsichtig. Sie wollte mich nicht verängstigen, das sah ich ihr an. Und sie wusste nicht, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollte. Wahrscheinlich hatte sie selbst Angst mich umzuziehen, da sie dann sicherlich zum ersten Mal das ganze Ausmaß dessen sehen würde, was dieses Schwein mir angetan hatte. Ich musste es nicht sehen, ich spürte es, spürte jeden Fleck, jede Prellung und auch die gebrochenen Finger, Knöchel und Rippen.

 

„Kannst du … kannst du dich an alles erinnern?“, fragte sie zögerlich als sie mir das nasse Krankenhaushemd aufknöpfte und auszog. Sie stöhnte einmal erschrocken auf und ich sah, wie ihre Hand zu zittern begann und sie wieder anfing zu weinen. Dieser Anblick meiner Mutter tat mir beinahe mehr weh als mein körperlicher Schmerz. Nie hatte ich meine Mutter so sehen wollen, vor allem nicht meinetwegen.

 

„Den schlimmsten Teil hat mein Kopf wohl irgendwo eingesperrt. Ich … weiß nur noch, wie Viggo mich gerettet hat“, sagte ich leise und meine Mutter hielt für einen kurzen Moment inne. Ich konnte ihr einfach nicht sagen, dass ich mich auch noch daran erinnern konnte, wie er begonnen hatte. Ich wollte meiner Mutter nicht noch mehr Schmerzen zufügen als sie sowieso schon hatte. Als sie mich dann vorsichtig abgetrocknet hatte und sie mir eines meiner Nachthemden angezogen hatte, setzte ich mich wieder auf mein Bett und sie bürstete vorsichtig mein feuchtes Haar.

 

„Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen“, schluchzte sie und ich drehte mich schnell zu ihr um. So etwas durfte sie erst gar nicht denken. Sie trug keine Schuld an dem, was passiert war. Sie hätte rein gar nichts tun können, das wusste ich. Ich musste ihr nichts sagen, sondern sie einfach nur ansehen, damit sie augenblicklich still war. Es war komisch, meine Mutter so zu sehen. Normalerweise war sie immer stark gewesen, aber jetzt war es beinahe so, als kannte ich sie nicht mehr.

 

„Miss Kensington, ich bin Elisabeth Illings, Ihre neue Psychiaterin. Ich bin auf Fälle wie Ihren besonders geschult worden“, stellte sich dann auf einmal eine Frau bei mir vor. Sie war einfach in mein Zimmer geplatzt, ohne auch nur anzuklopfen. Ich hatte mich sofort wieder unter meiner Bettdecke verkrochen, weil ich Angst hatte, es könnte Paul sein.

 

„Sie hätten sie vielleicht weniger verstört, wenn Sie vorher angeklopft hätten“, sagte meine Mutter etwas wütend, doch die andere Frau schien sie einfach zu ignorieren.

 

„Es wäre besser, wenn Sie den Raum jetzt verlassen. Wir haben viel zu erledigen und es ist besser, wenn niemand dabei ist“, wandte sich die Psychiaterin dann doch noch an meine Mutter. Diese rührte sich jedoch keinen Millimeter vom Fleck. „Ihre Tochter wird nicht frei reden können, wenn Sie dabei sind.“

 

„Ich denke, meine Tochter kann selbst entscheiden, ob sie mich hier haben will oder nicht.“ Meine Mutter war energisch. Wahrscheinlich wollte sie mich nicht alleine lassen, wenn es nicht unbedingt sein musste, und ich war ihr dankbar dafür. Natürlich schickte ich sie nicht nach draußen. Um ehrlich zu sein wollte ich auch gar nicht über das reden, was passiert war. Ich wollte einfach in Ruhe gelassen werden, mehr nicht.

 

„Er … Das Schwein ist jetzt im Gefängnis“, sagte Hirchop, nachdem er und mein Vater wieder von der Cafeteria gekommen waren und wir die Psychiaterin entlassen hatten. Sie war keineswegs jemand, dem ich mich anvertrauen konnte und wollte. Jetzt, in diesem Moment, hätte ich am liebsten Maria angerufen, aber ich erinnerte mich noch genau an unseren Streit und wie ich sie weggeschickt hatte. Sie hatte versucht mich zu warnen, aber sie hatte es auf die falsche Weise getan.

 

Hätte es in dieser Situation überhaupt eine richtige Weise gegeben? Ich wusste es nicht, aber sie hatte mich angeschrien und beleidigt. Flittchen hatte sie mich genannt, obwohl sie doch genau verstand, was in mir vorging. Ich hatte so etwas nicht von meiner besten Freundin erwartet und hatte sie hochkantig und kaltherzig aus meiner Wohnung geschmissen. Einem Teil von mir tat es unheimlich leid, ein anderer Teil verstand immer noch nicht, warum Maria so zu mir gewesen war, warum sie so ausgerastet war.

 

„Teti, hast du mich gehört? Er ist im Gefängnis, er wird dir nichts mehr tun können“, wiederholte Hirchop, was er mir eben gesagt hatte, und wollte näher kommen. Ich sah ihn erschrocken an und meine Mutter merkte sofort, was los war, und hielt ihn fest.

 

„Komm ihr nicht zu nahe, Hirchop“, sagte sie mit brüchiger Stimme und Hirchop sah mich verletzt an. Er konnte es nicht verstehen. Wie auch? Er war nicht in meiner Situation. Sein Körper war nicht übersäht von blauen Flecken, Prellungen und Brüchen. Sein Körper war noch normal. Vor allem spukten in seinem Kopf nicht ständig Bilder herum, wenn er angefasst wurde. Es tat mir fürchterlich leid, dass auch meine Familie von dem, was dieses Schwein gemacht hatte, betroffen war, aber ich konnte nichts daran ändern.

 

„Hir, bitte …“, flehte ich ihn an, als er seine Fäuste ballend aus dem Zimmer stürmte. Ich weinte sofort. Warum verstand er mich nicht? Ich wollte ihm doch nicht wehtun, ich konnte einfach nicht. Es war schon schwer genug, wenn meine Mutter, eine Frau, mich anfasste. Wenn es aber nun ein Mann war, der mich anfasste … Ich wollte nicht wieder eine Panikattacke haben und ihn vielleicht ernsthaft verletzten, wenn ich um mich schlug.

 

Nach einigen Tagen konnten mich dann sogar schon fremde Schwestern anfassen und meine Mutter musste nicht ihre Aufgaben übernehmen. Ich machte kleine Fortschritte und ich sah meiner Mutter an, dass sie sich darüber freute. Hirchop hatte ich seit dem kleinen Zwischenfall nicht mehr gesehen. Er war nicht mehr zu mir gekommen und meine Eltern wollten mir auch nicht sagen, wo er war. Irgendetwas sagte mir, dass irgendetwas nicht stimmte.

 

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