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Kapitel 3

 

Verzögerung

 

 

 

Ein ewiger Lärm dröhnte durch die halb geöffneten Fenster des spärlich eingerichteten Büros und übertönte das Klackern der Tastatur, über die immer wieder fleißige Finger glitten. Der nicht besetzte Schreibtisch direkt vor der großen Fensterfront war überladen mit Verträgen und Entwürfen.

Als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte war zu befürchten, dass der Anrufer sein gewünschtes Ziel nicht erreichen würde, doch da dies ein eher großes Büro war, waren hier zwei Schreibtische aufgestellt und der zweite war besetzt.

„Marketing Department, Anna Jenkins, how can I help you?“, fragte die rothaarige, hinter ihrem Bildschirm versteckte Frau, als sie das Gespräch ihrer Kollegin annahm. Wahrscheinlich war es sowieso wieder nur jemand aus der Druckerei, um ihrer Kollegin mitzuteilen, dass der erste Testdruck fertig war, und dass sie ihn abnicken musste.

„No, she’s not here, yet. She should arrive around nine. Have a nice day.” Damit war das Gespräch auch schon wieder beendet, aber wie es Vorschrift war, schrieb sie ihrer Kollegen dennoch eine Notiz, auch wenn sie weder eine Nummer noch den vollen Namen des Mannes hatte, der gerade versucht hatte ihre Kollegin zu erreichen.

Bianca hatte ihr vorgestern schon gesagt, dass sie heute Morgen sicherlich erst zur Kernzeit eintreffen würde, und bis dahin waren es noch einige Minuten. Wenn man dann noch die Zeit dazurechnete, die sie sich immer verspätete, natürlich nur bedingt durch die volle Metro, dann würde sie in ungefähr einer halben Stunde eintreffen.

Natürlich war Anna daher vollkommen Baff, als ihre Kollegin keine zwei Minuten später durch die Tür gerauscht kam. „Sorry, Süße. Ich weiß, ich bin spät dran.“ Bianca war schon so in diesem Begrüßungstrott drin, dass sie anscheinend gar nicht gemerkt hatte, dass sie ausnahmsweise einmal keineswegs zu spät war. Sie war sogar eine halbe Stunde eher anwesend als erwartet.

„Schon okay. Da hat eben ein Typ für dich angerufen. Er sagte, er ruft später wieder an“, erklärte Anna ihrer Kollegin. Auch Anna war von Deutschland hier nach London gezogen, doch bei ihr war es schon länger her als bei Bianca. Anna war bereits zu Schulzeiten aus Deutschland weggezogen. Ihr Vater hatte bei der Royal Air Force gearbeitet und war zurück nach Hause gerufen worden, und seine Familie war ihm natürlich gefolgt.  

Es war die Idee ihres Chefs gewesen, die beiden deutschsprachigen Grafikerinnen in ein gemeinsames Büro zu setzten, und beide Frauen waren dankbar dafür. Sie arbeiteten nun schon seit mehr als 5 Jahren zusammen und es hatte nur wenige Situationen gegeben, in denen die beiden nicht ein gutes Team gewesen waren.

„Nur Richard? Mehr hat er nicht gesagt?“, fragte Bianca noch einmal verwirrt nach, als sie den Zettel ihrer Kollegin ansah.

„Nein, tut mir leid. Sobald ich sagte, dass du noch nicht da bist, hat er aufgelegt.“ Anna zuckte nur mit den Schultern und auch Bianca maß dem erst einmal nicht mehr allzu viel Beachtung bei. Sie hatte genug Entwürfe auf ihrem Schreibtisch liegen, die sie noch zu schlüssigen Werbebannern für die Londoner Busse umfunktionieren musste. „Wie war denn das Theater? Ist Ambers Schwester besser bei ihrem Job als Amber es hier ist?“, fragte Anna dann nach einigen Minuten leicht kichernd.

Bianca sah nur spielend empört an ihrem Monitor vorbei. „Na komm, so schlimm ist Amber nun auch wieder nicht“, war eigentlich das einzige, was sie dazu hatte sagen wollen, aber der skeptische Blick ihrer Kollegin brachte sie dazu zuzugeben, dass es doch etwas schlimmer war. „Amber macht Fehler, ja. Aber machen wir die nicht alle mal?“

„Fehler? Weißt du, wie oft sie mir schon einen kompletten Vektorentext zerschossen hat?“, beschwerte sich Anna nun im Flüsterton, als säße besagte Amber beinahe neben ihr. Außerdem wussten beide Frauen, dass außer ihnen und ihrem Chef niemand mehr als ein paar Bruchstücke Deutsch konnte und selbst der Chef war eher ein Anfänger, wenn es um die Deutsche Sprache ging.

„Ich habe aufgehört zu zählen“, gab Bianca dann zu. Sie hörte ihre jüngere Kollegin beinahe täglich fluchen, weil die Texte, die sie zur farblichen Anpassung und Gestaltung nach unten gab, vollkommen falsch wieder bei ihr ankamen und nur durch aufwendige Arbeit noch gerettet werden konnten. „Aber Hannah ist wirklich talentiert. Sie hatte zwar eher eine kleinere Rolle, aber sie war beindruckend“, versuchte Bianca dann von dem leidlichen Thema abzulenken. Auch Anna kannte Hannah, immerhin hatte die junge Schauspielerin vor einem Jahr, während ihrer Schauspielausbildung, als Aushilfe für die beiden gearbeitet.

„Was ist das eigentlich für ein Lärm hier?“, fragte Bianca dann nach einiger Zeit, in der sie an ihren aktuellen Entwurf gesessen hatte und ein besonders lautes Geräusch sie aus ihrer Konzentration gerissen hatte.

„Sie bereiten den Park für den Winter vor“, war die Erklärung ihrer Kollegin, die bei dem Wort Winter ihre Nase rümpfte. Der Winter war an sich keine schöne Jahreszeit, aber hier in England bedeutete das meistens, für mehrere Monate eine undurchdringliche, graue Wolkendecke zu sehen, die eigentlich immer sintflutartige Regenfälle zur Folge hatte. Auch Bianca hasste die Winter hier, aber schon vor langem hatte sie bemerkt, dass sie im Winter auch in Deutschland nicht glücklich war. Auch da war es meistens grau und eher feucht.

Am liebsten wäre Bianca für die kalten Wintermonate nach Australien oder Neuseeland ausgewandert, um dadurch dann nie mehr einen richtigen Winter miterleben zu müssen, aber leider ging das in ihrer Vorstellung alles viel, viel einfacher als im wahren Leben. Im wahren Leben konnte man sich nicht einfach eine ganze Jahreszeit absetzten und dem Winter entfliehen. Im wahren Leben hatte man nicht nur fleißige und intelligente Kollegen und im wahren Leben lud einen auch kein Schauspieler zu einem Date ein.

Sie war beinahe wütend auf sich selbst, dass sie sich die ganze letzte Nacht solche Gedanken über den Vorfall mit Richard Armitage gemacht hatte. Sie hatte sogar, und das tat sie wirklich bei Schauspielern nur sehr selten, seinen Namen gegoogelt, und was sie gesehen hatte, hatte sie ziemlich erstaunt.

Er hatte tatsächlich in diesem großen Fantasyfilm mitgespielt und dabei noch nicht einmal ein schlechtes Bild abgeliefert. Was sie ziemlich amüsant fand, waren einige Bilder, in denen Richard Armitage sie eher an eine ältere Version von Daniel Radcliffe erinnert hatte. Den hatte sie schon oft genug gesehen, immerhin hatte sie die Kinobanner entworfen, die damals beinahe jedes Jahr die Busse Londons geschmückt hatten. Ebenso hatte sie herausgefunden, dass er in einer Serie auftauchen würde, die zwar schon länger lief, sie selbst aber erst vor Kurzem bei einem Streamingdienst entdeckt hatte und gerade die erste Staffel fertig gesehen hatte.

Das Ganze hatte sie dann bis ungefähr 3 Uhr nachts noch wachgehalten, das und der Anruf von Jenny, die ihr das Versprechen abgenommen hatte, sich sofort zu melden, wenn der Schauspieler sich tatsächlich wegen einem Date melden würde. Jenny hatte ihre Freundin, im Auftrag ihres Sohnes, daran erinnert, dass sie ihm nun ein Autogramm schulde, wenn sie nicht wolle, dass ihr Patensohn alleine zum Geburtstag seiner Großmutter gehen müsse.

„Willst du nicht drangehen?“, riss Anna ihre Kollegin dann aus den Gedanken und dann erst bemerkte Bianca, dass ihr Telefon ziemlich penetrant klingelte. Auf dem Display wurde keine Nummer angezeigt. Schnell nahm sie dann doch den Hörer ab und hätte diesen beinahe in hohem Bogen auf den Boden gefeuert, wäre da nicht noch der Schreibtisch im Weg gewesen.

„Marketing Department, Bianca Lohmann, how can I help you?“, rezitierte sie die schon zur Routine gewordene Begrüßung.

„Hi, Miss Lohmann, it’s Richard“, hörte sie nur und beinahe wäre ihr noch einmal der Hörer aus der Hand gefallen. Anna sah sie schon ziemlich verwirrt an. Wer war das bloß da am Telefon, der ihre Kollegin so aus dem Konzept bringen konnte? „Bianca?“, fragte er, als die Angesprochene nicht reagierte.

„Hi, sorry. To be honest, I’m quite overwhelmed.“ Und das war nicht gelogen, sie war sogar mehr als überfordert. Um gestern Nacht überhaupt ein Auge zutun zu können hatte sie sich fest eingeredet, dass der smarte, englische Schauspieler seine Einladung sicherlich aufgrund seiner vielen Termine vergessen würde.

„Why? Surely not because you might have googled me by now, right?“, sagte er eher amüsiert und Bianca wurde unweigerlich rot.

„It would have been better if I hadn’t. Would’ve guaranteed a good nights sleep.” Sie versuchte zu lachen, doch es hörte sich aufgrund ihrer steigenden Nervosität doch eher seltsam an.

„Amen to that“, bemerkte ihr gegenüber und klang schon beinahe etwas grimmig dabei. „I was thinking about calling you straight away“, gab er zu und immer noch war der grimmige Unterton in seiner Stimme unüberhörbar. „I’m sorry to inform you, that our date has yet to wait“, sagte er und Bianca rollte sarkastisch schnaubend mit ihren Augen. Das war ja klar. Was hätte sie auch anderes erwarten sollen? Er war ein Schauspieler, ein gut aussehender noch dazu. Natürlich würde er sich nicht mit ihr treffen. „I have to fly to The States for a week, possibly two. So, our date is postponed, not cancelled.” Er betonte den letzten Satz so deutlich, dass der kleine Hoffnungsschimmer in Biancas Herzen nicht vollkommen ertränkt wurde, aber er loderte nur noch schwach vor sich hin. Natürlich würde er sich in zwei Wochen nicht mehr bei ihr melden, bis dahin hatte er das, was im Theater passiert war, und sein Versprechen danach sicherlich lange vergessen.

„It’s alright, Richard.“ Sie versuchte so ruhig wie möglich zu klingen. „Have a nice flight“, sagte sie und legte dann auf, bevor der Schauspieler noch irgendetwas sagen konnte. Dann zog sie, begleitet von einem eher unverständlichem Blick ihrer Kollegin, das Telefonkabel aus dem Anschluss.

„Jemand, den wir töten müssen?“, fragte Anna vorsichtig. Bianca machte nur eine abwertende Handbewegung und Anna wusste, dass es jetzt das Beste war, wenn sie erst einmal still war und nichts sagte. Was auch immer da gerade passiert war, Bianca würde nun besser längere Zeit nicht angesprochen werden, und jeder, der sie kannte, wusste, dass dieser Ausdruck in ihrem Gesicht das erste Indiz dafür war. Das Zweite war die Wucht, mit der sie nun bei ihrer Arbeit in die Tasten haute, beinahe so als habe die Tastatur selbst ihr Unrecht getan.



Hi Jenny,

das mit dem Autogramm kann Leon sich abschminken. Von so jemandem will er nämlich bestimmt keines. Und wenn seine Freundin nur seine Freundin bleibt, wenn er ihr ein Autogramm besorgt, sollte er sich schnell eine andere suchen, denn die ist es wirklich nicht wert.

Ich habe eben einen Anruf von dem netten Herrn Schauspieler erhalten. Er hätte die ganze Nacht wachgelegen, weil er – ja, natürlich – überlegt hat, mich anzurufen. Aber nicht etwa weil er direkt mit mir ausgehen wollte, nein. Weil er angeblich einen Anruf bekommen hat, dass er für ein bis zwei Wochen in die Staaten muss. Danach würden wir aber das Date selbstverständlich nachholen.

Dass ich nicht lache!

Sorry, dass ich das jetzt wieder an dir rauslasse, aber irgendwo muss ich mich ja auslassen können, und wenn ich jemand anderem erzähle, dass ich tatsächlich Richard Armitage getroffen habe und dass er mich zu einem Date eingeladen hatte, denken eh alle, ich hab einen Sprung in der Schüssel.

Grüße deine beiden Männer von mir.

Bibi



Bianca wusste, Jenny würde diese E-Mail nicht vor Ende des Tages lesen, immerhin saß sie im Moment mit ihren Männern auf dem Flughafen und wartete, dass der Flieger zurück nach Deutschland gehen würde, aber so hatte sie sich die Sache wenigstens schon einmal von der Seele geschrieben, wenn sie schon nicht darüber reden konnte.

Danach arbeitete sie bis zu ihrer Pause ziemlich gereizt und immer wieder in ihren zum Glück nicht wirklich vorhandenen Bart murmelnd weiter an ihrem Projekt. In der Pause, die sie absichtlich erst später machte als alle anderen Kollegen, ging sie nicht, wie sonst immer, in die Kantine, sondern sie entschied sich diesmal eher für den Park. Die Arbeiten dort waren nun seit einigen Stunden fertig und die kühler werdende, frische Luft, die ihr um die Nase wehte, schien auch nach und nach ihre schlechte Laune wegzublasen.

Einige Zeit genoss sie es sogar, einfach nur auf der Parkbank zu sitzen mit geschlossenen Augen und einfach gar nichts zu tun. Sie hörte, wie immer wieder Jogger oder normale Spaziergänger an ihr vorbeigingen, oder wie die letzten Vögel, die noch hier waren, leise zwitscherten als endlich, beinahe als habe sie selbst es ausgelöst, die Sonne zum Vorschein kam. Sie atmete einfach nur tief ein und aus. Auf dem Weg zurück in ihr Büro nahm sie sich vor, solche Pausenausflüge in Zukunft öfter zu machen, vor allem wenn irgendetwas sie beschäftigte.

Doch die Steigerung ihrer Laune hielt nicht sonderlich lange an. Kaum war sie wieder an ihrem Platz und hatte ihren Rechner wieder hochgefahren, da meldete ihr E-Mail Programm auch schon, dass sie eine neue ungelesene Nachricht hatte. Das war normalerweise nicht weiter schlecht oder sonderbar, aber als sie auf die Benachrichtigung geklickt hatte und sich das Fenster der Nachricht öffnete, hätte sie bereits beim Absender am liebsten schon wieder alles geschlossen.



Hello Bianca,

I guess our last talk didn’t go as expected, and I’m really sorry for this. Seeing I tried to call your office about 3 times to notice you must have pulled the plug, I decided to write you a Mail. After all, you gave me all your office contacts so I guess it’s alright if I try this way .

I just wanted to assure you, once again, that our date is not cancelled. The interviews I have to give are very important interviews for my next movie and my agent just called me after I left the Old Vic. I don’t know if I’ll be there for a week or two, but I know I have to be back in London after that. I will have two last performances for The Crucible then.

So, my offer is that we meet on September 13th, at about 9 am outside the Hilton at Hyde Park? I know a nice bar on the 28th floor and I’m sure you’ll like the view.

Looking forward to see you then.

Richard



Damit endete seine E-Mail und Bianca hatte gar nicht gemerkt, wie ihre Kinnlade mit jedem Wort, das sie gelesen hatte, weiter nach unten gesunken war. Warum hatte sie ihm nur ihre Visitenkarte gegeben? Und warum um alles in der Welt machte er sich auch noch die Mühe, ihre eine Mail zu schreiben, wenn er sie doch eigentlich nur abwimmeln wollte?

„Was schaust du denn wie ein angeschossenes Reh?“, fragte nun auch Anna, die anscheinend die Mimik ihrer Kollegin die letzten Minuten beobachtet hatte. Als die smarte Brünette ihr nicht antwortete, sondern einfach nur weiter auf ihren Bildschirm zu starren schien, nahm sie sich einfach die Freiheit um den Schreibtisch herumzugehen und selbst nachzusehen, was ihre sonst eher gefasste Kollegin so aus der Bahn geworfen hatte.

„Du hast ein Date?!“, schrie sie Bianca beinahe ins Ohr und das schien auch die Betroffene aus ihrer Trance zu holen. Sie klickte die Mail schnell weg, aber es war schon zu spät. Anna hatte schon gelesen, was dieser ominöse Richard geschrieben hatte, und für sie als Außenstehende schien es beinahe so, als würde dieser Richard ihre Kollegin wirklich dringend treffen wollen. Warum sonst versuchte er alles, um sie zu erreichen?

„Nicht so laut!“, zischte Bianca sie an und packte ihre bedeutend abenteuerlustigere Kollegin am Arm. „Du wirst niemandem etwas von dieser Mail sagen, okay?“ Sie brauchte überhaupt keine weitere Drohung auszusprechen, Anna wusste schon genau, was Bianca tun würde, wenn sie herausfand, dass Anna geplappert hatte.

„Wirst du hingehen?“, fragte sie dennoch mit einem leicht schelmischen Grinsen.

„Nein“, antwortete Bianca nur knapp und verschränkte stur ihre Arme vor ihrer Brust.

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