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Kapitel 13

 

Gute Freunde

 

 

 

Nur vereinzelt drang die schon hoch stehende Sonne durch die Jalousie des Schlafzimmers und  beleuchtete mit kleinen Lichtpunkten das etwas verquollen wirkende Gesicht der jungen Hausbesitzerin. Unsanft und schweißgebadet schreckte sie auf einmal aus einem uralten Alptraum hoch.

Schon Ewigkeiten hatte sie diesen Alptraum nicht mehr gehabt, hatte sich schon lange nach einem neunstündigen Schlaf nicht mehr so schlecht gefühlt. Sie war in einer Kneipe gewesen, in ihrer alten Heimatstadt, sie wusste noch nicht einmal, ob sie alleine dort gewesen war oder mit anderen, sie wusste nur noch, dass, als sie aus der Kneipe getreten war, auf einmal der Boden unter ihren Füßen senkrecht abgeknickt und sie gefallen war, unaufhörlich gefallen. Sie fühlte sich wie von einem Elefanten überrannt, körperlich und geistig vollkommen erschöpft, aber sie konnte dennoch nicht wieder einschlafen. Die Kindliche Angst, noch einmal dasselbe zu träumen, hielt sie davon ab.

Unwillig noch einmal die Augen zu schließen, egal wie sie sich fühlte, ging sie nach unten in ihre Küche und stellte ihre Kaffeemaschine an. So würde sie sich zumindest einigermaßen wach halten können, immerhin war heute Samstag.

Der Gedanke an Samstag und was das genau bedeutete, ließ ihr allerdings einen Schauer über den Rücken laufen. In weniger als 12 Stunden würde sie sich mit Richard in einer Bar treffen. Mit genau dem Mann, in dessen Armen sie am Vorabend vollkommen erbärmlich gesessen und sich selbst bemitleidet hatte.

Er war einfach in diesen Raum gekommen, hatte sich neben sie gesetzt und seinen Arm um sie gelegt, ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen, ohne sie zu fragen, was sie so beschäftigt hatte. Sicherlich musste er sich fürchterlich gewundert haben, dass eine für ihn bisher so resolut wirkende Frau so jämmerlich sein konnte. Er hatte sie sogar leicht an sich gezogen, sodass sie nur noch ihr Gesicht in seinem Nacken vergraben hatte. Er hatte ihr bestimmt eine geschlagene halbe Stunde über den Rücken und die Haare gestrichen, bis sie sich langsam von ihm abgeschält hatte.

Als sein Smartphone in seiner Jackentasche leicht vibriert hatte und auf dem Display die Nummer seines Meetingpartners zusehen gewesen war, hatte Bianca nur zögerlich seine Hand gedrückt und war aufgestanden. Ohne ein Wort zu sagen, hatten sie die beiden dann mit einer kurzen Umarmung verabschiedet und ihr nicht so mysteriöser Tröster war aus dem Büro verschwunden.

Wenn sie jetzt darüber nachdachte, war es komisch, dass er kein Wort zu ihr gesagt hatte. Dass er sie nicht gefragt hatte, warum sie weinte. Hatte es ihn nicht interessiert oder hatte er ihr den Freiraum geben wollen, es unter ihren eigenen Bedingungen zu sagen, wenn sie es wollte? Oder hatte es vielleicht an der doch relativen Anonymität unter den gegebenen Bedingungen gelegen? Hatte er ihr die Möglichkeit geben wollen, dieses Zusammentreffen einfach unter den Tisch zu kehren, zumindest offiziell, weil er ahnte, dass die nicht wollte, dass Leute sie so kannten, so verletzlich und schwach?

Wenn das wirklich der Fall war, war sie ihm dankbar dafür, denn sie war wirklich nicht stolz auf das, was gestern passiert war. Sie wusste nicht, wann sie sich das letzte Mal so elend gefühlt hatte. Sicherlich war es das erste Mal gewesen, dass es so plötzlich und unverhofft gekommen war. Aber, und ganz tief in ihr wusste sie, dass sie das Richard zu verdanken hatte, sie hatte es vergleichsweise schnell überwunden gehabt. Wäre diese Verzweiflung hier in ihrem Haus über sie geschwappt, wenn sie alleine gewesen wäre, würde sie wahrscheinlich noch die nächsten 2 Tage in ihrem Bett verbringen.

Aber Richard war dort gewesen und war einfach nur für sie da gewesen, wie ein starker, großer Fels in der Brandung. Ein Fixpunkt der Gegenwart, damit sie nicht zu tief in ihre Gedanken aus der Vergangenheit glitt.

Wie immer, wenn sie einmal wieder zu tief in der Vergangenheit versunken war, wählte sie umgehend die Nummer ihrer besten Freundin, die, wenn man ihre Kollegen nicht mit rechnete, sogar ihre einzige Freundin war. Jenny hatte sie immer wieder in das Heute zurückholen können und auch, wenn sie das eigentlich nicht mehr brauchte, hatte Bianca das Gefühl, ihre alte Freundin anrufen zu müssen.

„Leon Kohnstedt“, meldete sich eine fröhliche Jungen-Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war Biancas Patensohn. Natürlich fragte er sofort, als er bemerkte, dass seine Lieblingstante am anderen Ende war, nach seinem Autogramm.

„Keine Angst, du wirst es noch bekommen, versprochen. Aber davon abgesehen, wenn das Mädchen dich nur wegen des Autogramms mag, ist das nicht richtig“, versuchte Bianca Leon eine sehr wichtige Lektion zu lehren, die wahrscheinlich auch schon Jenny und ihr Mann versucht hatten, ihrem Sohn beizubringen. Leon seufzte am anderen Ende nur genervt und gab den Hörer mit einem frechen Kommentar an seine Mutter weiter.

„Sag meinem Lieblingspatenkind, er soll bloß aufpassen, was er sagt, wenn ich ihn noch hören kann, sonst komme ich rüber und zeige ihm, was Nerven wirklich heißt.“ Jenny lachte nur kurz, sagte ihrem Sohn aber nur, dass Bianca nur noch einmal nach Deutschland kommen würde, wenn er nett zu ihr wäre. Und man hörte aus dem Hintergrund nur eine laute Entschuldigung und dann trappelnde Füße.
Nach einem kurzen Small Talk über das Wetter, Leon und das allgemeine Weltgeschehen lenkte Jenny dann das Thema auf den eigentlichen Grund für Biancas Anruf, indem sie nach dem Date mit Richard fragte.

„Na ja, nachdem ich dir das letzte Mal geschrieben habe, hat sich doch noch einiges verändert“, leitete Bianca die Geschichte ein, die sie ihrer Freundin nun erzählen würde, und sie versuchte, im Gegensatz zu dem, was sie ihren Kollegen erzählt hatte, tatsächlich kein Detail auszulassen. Sie erzählte von den Nachrichten, die sie und Richard miteinander geschrieben hatten, von dem Telefonat kurz bevor er wieder nach England geflogen war. Ihrem überraschenden ersten Treffen mitten während eines Geschäftsmeetings, in dem er auch noch ein Kunde war, und natürlich von dem Vorfall am vergangenen Abend.

Als Psychologin wusste Jenny natürlich direkt, was ihre Freundin hatte. Der Stress auf der Arbeit und die damit verbundene Hilflosigkeit hatten in ihrer Freundin alles zum Vorschein gebracht, was sie jahrelang versucht hatte zu verdrängen. Alle Gefühle waren einmal mehr in einem riesigen Tsunami an Emotionen und Empfindungen über sie hineingebrochen, bis sie sie nicht mehr bändigen konnte.

Was sie allerdings sehr überraschte, war, dass es ein Mann, und dann ausgerechnet noch dieser Richard Armitage war, der ihre Freundin aus dieser Situation geholt hatte. Er hatte unterbewusst genau das getan, was für sie am besten gewesen war. Hätte er sie wohlmöglich auf ihre Probleme angesprochen, wie es die meisten Menschen taten, dann hätte sie es aussprechen müssen, und es wäre für sie noch realer gewesen, ohne die Möglichkeit, es jemals wieder vergraben zu können, zumindest in seiner Gegenwart. Doch indem er einfach nur bei ihr gewesen war, hatte er ihr ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Ein Gefühl, dass er ihr zwar bei der Bewältigung der Probleme nicht helfen konnte – und dass er es auch gar nicht versuchen wollte –, aber er konnte sie halten, ihr helfen sich zu beruhigen, damit sie selbst ihre Probleme bewältigen konnte.

„Er wird es nicht ansprechen“, schlussfolgerte Jenny dann, als Bianca ihre Angst äußerte, dass Richard sie vielleicht doch nach dem Grund fragen würde. „Wenn er es gestern nicht getan hat, wird er es nicht tun. Nicht solange du nicht bereit bist, es ihm zu sagen.“ Da war Jenny sich durchaus sicher und das machte ihr diesen Mann schon ein ganzes Stück weit sympathischer.

„Gut, ich will nicht unser erstes richtiges Date vermasseln, nur weil wir über meine Vergangenheit sprechen.“ Es war Bianca während des Gesprächs gar nicht aufgefallen, aber sie hatte tatsächlich das erste Mal von dem Treffen heute Abend mit Richard als ihr gemeinsames erstes Date gesprochen. Es fiel ihr erst auf, als ihre Freundin einen Moment still blieb am anderen Ende. Tom war der letzte Mann gewesen, bei dem ihre Freundin gewollt hatte, dass beim ersten Date alles glatt ging, alle anderen waren ihr mehr oder weniger egal gewesen. Es war zu schade, dass die Ehefrau und Mutter in Deutschland festhing, während sie vielleicht aus erster Reihe hätte mitbekommen können, wie ihre Männern gegenüber verschlossene Freundin aus Schultagen sich endlich wieder einem Mann öffnete, und dann auch noch einem bekannten Schauspieler.

„Keine Angst, ich bin mir sicher, dass du Spaß haben wirst“, sagte Jenny und klang dabei eindeutig amüsierter als ihre Freundin es vielleicht wollte. Sicherlich war diese Art von Spaß das letzte, an das Bianca gerade dachte. Hatte Jenny das überhaupt gemeint? Wahrscheinlich war das wieder einer ihrer Psycho-Tricks, auf die sie aber dieses Mal nicht hineinfallen würde.

Als sie beiden dann eine weitere Stunde später aufgelegt hatten, natürlich nicht ohne dass Jenny noch einmal den Spaß angesprochen hatte, den ihre Freundin sicherlich haben würde, entschied die eigentlich das Singelleben genießende Frau sich dazu, alles zu tun, damit sie am Abend entspannt und vollkommen als sie selbst zu diesem Date würde gehen können. Irgendetwas in ihr schürte ihren Drang, es dieses Mal richtig zu machen.

Früher hatte sie die Meinung der meisten normalen Leute über Schauspieler geteilt: Sie knüpften keine Kontakte mit Leuten, die nicht im Showgeschäft waren, sie reisten jeden Tag in der Weltgeschichte herum, waren von normalen Leuten am liebsten durch einen mindestens hüfthohen Zaun getrennt, sie aßen am liebsten Caviar und tranken nur den teuersten Champangner und alles, was sie taten, hatte irgendeinen PR-Hintergrund. Doch zumindest seit sie Richard kennengelernt hatte, hatte sich dieses Bild etwas verändert. Anscheinend gab es auch Schauspieler, die noch relativ auf dem Boden der Tatsachen geblieben waren.

Dazu musste man natürlich auch noch sagen, dass Richard, trotz seiner großen Rolle im Hobbit und in dem neuen Katastrophen-Film aus Hollywood, noch immer nicht so bekannt war, wie zum Beispiel ein Brat Pitt oder ein George Clooney. Er hatte zwar eine wachsende Fanbase, aber er war nun einmal erst seit kurzem richtig bekannt geworden. Außerdem war er nicht als Kind von Schauspielern aufgewachsen. Seine Eltern hatten ihn ganz normal erzogen und er hatte für seinen Traum hart arbeiten müssen. Für sie war er ein normaler Mann, mit einem ziemlich eindrucksvollen Job.

Why don’t you come see the last curtain fall?” , kam dann eine halbe Stunde später eine Nachricht auf ihrem Handy. „I’d be really happy to see you there.“

„I’d love to, but I don’t have a ticket. And I doubt there will be any left.“

Well, I know a certain actor, who could get you in.” , antwortete mit einem zwinkernden Emoticon. “You’ll be my inofficial +1.”

Who’s your official?” , fragte Bianca unsicher, ob sie aufgrund des Wortes „inoffiziell“ beleidigt sein sollte, aber wahrscheinlich war es besser so. Sie wollte sicherlich nicht am nächsten Tag auf einem der Klatschblätter erscheinen.

Lee Pace, the colleague, I was in LA with. Promise him he’d see the show at least once.“  Bianca musste kurz lachen. Sie musste an ihre ausführliche Internetrecherche am letzten Wochenende denken. Sicherlich hatte Richard noch nie eine solche Recherche durchgeführt, sonst hätte er gewusst, dass es eine gewisse Fanbase gab, die, wenn sie davon windbekamen, dass Lee Pace auf der letzten Vorstellung von Richard war, sich nur noch in ihrem Glauben bestärkt fühlen würden, dass diese beiden Hobbit-Darsteller ein schwules Liebespaar waren. „He’ll pick you up at 5 pm.

Who?“ Doch auf diese Frage bekam sie schon keine Antwort mehr, denn anscheinend hatte Richard sein Handy nun ausgeschaltet. Zumindest kam ihre Frage schon gar nicht mehr durch. Alles, was ihr also übrich blieb, war, sich doch nicht noch etwas zu entspannen, sondern direkt unter die Dusche zu springen. Das Styling danach würde sie bei ihren dicken, langen Haaren und der „Altbausanierung“, die ihr bevorstand, mindestens 2 bis 3 Stunden kosten und bis dahin war es dann auch schon kurz vor 5. Sie hatte also gar keine Zeit mehr, sich großartig Gedanken darüber zu machen, wer sie nun abholen würde.

Als sie endlich im Badezimmer fertig war und sich im Schlafzimmer ihre Garderobe für den Rest des Tages zusammenlegte, war sie froh, dass sie sich vor Jahren einmal einen schwarzen, eleganten Blazer gekauft hatte, denn im Theater selbst wollte sie sicherlich nicht mit einem tiefausgeschnittenen Oberteil sitzen. „Immerhin soll Richard sich auf seine Rolle konzentrieren“, sagte sie sich mit einem verschmitzten Grinsen selbst, als sie den Blaser überzog. Als sie sich im Spiegel betrachtete, fiel ihr allerdings auf, dass der Blazer den Ausschnitt nur solange bedeckte, wie er geschlossen war. Also schnappte sie sich noch ein schwarzes, bauchfreies Top mit Spitzenbesatz im Dekolleté und zog es unter das bronzene Oberteil. So wurde ihr Ausschnitt adäquat verdeckt, man konnte aber auch erahnen, was sich darunter verbarg.

Bevor sie noch irgendetwas anderes machen konnte, erklang dann draußen jedoch auch schon eine laute Autohupe. Und als ihre Uhr Punkt 17 Uhr anzeigte, wusste sie, dass dies nur ihre Mitfahrgelegenheit sein konnte. Sie schnappte sich also ihre Tasche und ihre Jacke, und verließ aufgeregt ihr kleines Häuschen.

Als die sowieso schon nervöse junge Frau den charmanten Mittdreißiger auf dem Rücksitzt des schwarzen Taxis erkannte, blieb ihr im ersten Moment die Luft weg. Richard hatte tatsächlich gemeint, dass sein Kollege aus dem Hobbit, König Thranduil, sie persönlich hier vor ihrer Haustüre abholen würde. Um sich zu fragen, woher dieser Mann eigentlich ihre Privatadresse hatte, war Bianca aber nicht in der Lage. Sie war zu sehr damit beschäftigt, zu lächeln und neben Lee Pace ins Auto zu steigen.

Auch er war, genau wie Richard, ein ganz normaler Mann mit einem besonderen Job, aber irgendwie fiel es ihr bei ihm schwerer, normal zu reagieren. Vielleicht auch, weil sie Richard gekannte hatte, bevor sie sich den Hobbit angesehen hatte. Lee aber konnte Bianca nun nicht anschauen, ohne vor sich den König der Waldelben aus dem Düsterwald zu sehen.

„Pleased to meet you, Bianca“, sagte er freundlich und schüttelte ihr die Hand. Sie erwiderte diese Floskel nur hohl, immer darauf bedacht, nicht dabei zu stottern. „Richard has told me a lot about you.“

„Oh, has he?” Ihre Stimme war beinahe etwas zu aufgeregt, das merkte sie selbst deutlich, als sie ihm antwortete. „Only good stuff, I hope.“

„Well, listening to him, you seem to have no faults.“ Unweigerlich wurde die Grafik-Designerin rot. Sicherlich hatte sie genug schlechte Seite, um damit einen weiteren Menschen auszufüllen, aber es ließ sie verlegen werden, dass Richard anscheinend tatsächlich nur gut über sie gesprochen hatte.

„Oh, believe me, everyone has his own little issues to bear“, antwortete Bianca schüchtern und Lee lächelte sie freundlich an. Er begann zu verstehen, was Richard an dieser Frau fand. Sie war bescheiden, und so überhaupt nicht das, was er zu Beginn befürchtet hatte. Auf der halbstündigen Fahrt zurück in die Londoner Innenstadt hatte er die Chance, diese Frau etwas besser kennenzulernen. Und als sie am Ende der Fahrt das Auto verließen, hatte Lee zumindest ein gutes Gefühl für die Frau bekommen, für die Richard sogar ein spontanes Zusatzinterview abgesagt hatte. Seine erste Befürchtung, sie könne Richard nur wegen seines Status interessant finden, hatte sie dabei sehr schnell zerstreut. Um ihre Intentionen musste er sich also keine Sorgen machen.

„Richard will be thrilled, that you actually made it here before your... meeting.“ Bianca bemerkte das Zögern des Schauspielers, als er versuchte, nicht auszusprechen, dass die beiden ein Date hatten. Und das machte ihn für sie noch ein Stück weit sympathischer, als er es ohnehin schon während der kurzen Autofahrt geworden war.

„Call it a date, it's okay. I just recently accepted it myself.“ Daraufhin lachten beide befreit und Lee nickte nur, während er sie zu ihren Plätzen brachte, die für Bianca wieder in der ersten Reihe waren.

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