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Kapitel 51

 

Tierra

 

 

 

„Sieh doch, Kabil!“, rief ich beinahe erschrocken, während ich auf den See blickte und sah, wie jemand anscheinend kurz davor war zu ertrinken. Schnell lief ich näher an den See und konnte sehen, dass es ein kleiner Junge war, gerade einmal 3 Jahre alt. Er schrie laut um Hilfe, aber es war niemand außer uns in der Nähe. Kabil rannte so schnell er konnte und sprang in den kalten See. Uns konnte die Temperatur nichts anhaben, aber der Kleine konnte ziemlich schnell unterkühlen, er brauchte unsere Hilfe, um zu überleben.

 

Ich sah angespannt zu, wie Kabil über den See lief, der Junge zu aufgeregt und zu sehr verängstigt, um es zu merken. Er zog den Kleinen aus dem Wasser und trug ihn zu mir. Der Kleine zitterte am ganzen Körper. Seine Kleidung war vollkommen durchnässt. Ich hatte schon einige Male gesehen, wie die Menschen die Kleider wechselten, um sich warm zu halten und das erste Mal bereute ich, dass wir selbst keine Kleidung trugen. Ich hatte nichts, was ich dem Kleinen hätte geben können, um ihn zu wärmen. Das einzige, was ich tun konnte, war, ihn fest an mich zu drücken.

 

Kabil merkte meine Hilflosigkeit und drückte sich ebenfalls an mich, sodass der Junge zwischen uns eingeschlossen war. Er weinte immer noch unkontrolliert, aber das Zittern hörte langsam auf und seine blauen Finger und Lippen färbten sich langsam wieder rosa.

 

„Wo sind deine Eltern?“, fragte ich dann, als der Kleine sich etwas beruhigt hatte. Er zeigte nur auf den See und weinte wieder. Ich ahnte, was er meinte und er tat mir noch mehr leid. Die Menschen hatten schon einige Male versucht, das Monster im See zu bezähmen, um sich von seiner Nahrung ebenfalls nähren zu können und schon oft waren dabei einige von ihnen ertrunken. Anscheinend hatte es nun die Eltern des Kleinen getroffen. „Wie heißt du?“

 

„Adhama“, sagte er schluchzend und ich nickte ihm warm zu.

 

„Wir bringen dich nach Hause, Adhama, die anderen werden sich um dich kümmern.“ Es war eine seltsame Situation, in die Stadt der Menschen zu laufen, ohne Kleidung, wie wir es gewohnt waren. Ihre Blicke verfolgten uns, als wären wir Verrückte. Als wir dann zu ihren Ältesten kamen, wollte der kleine Adhama uns nicht loslassen. Er wollte seine Retter nicht verlassen und lieber bei uns bleiben als bei seiner Tante.

 

„Wir werden euch mit Nahrung und Kleidung versorgen“, bot uns der Älteste Janos an. „Ihr könnt hier wohnen und unserer Gemeinschaft beitreten.“

 

Kabil wollte erst ablehnen. Ihm war alles hier fürchterlich suspekt, aber ich konnte ihn überzeugen. Ich hatte Jahrhunderte damit verbracht, diese Stadt zu beobachten, wie sie langsam aus den wenigen Flüchtlingen entstanden war, für die wir diesen Planeten hatten entstehen lassen. Ich stellte es mir wundervoll vor, wie eine der ihren unter ihnen zu wohnen, an ihrer Gemeinschaft teilzuhaben, die nicht ausschließlich aus zwei Individuen bestand. Die Jahre in der Gesellschaft der Menschen vergingen und Adhama wuchs vom Kind zum Mann heran.

 

„Mada*, ich möchte dir Chassah vorstellen.“ Der junge Mann vor mir war mittlerweile schon so alt, dass er alleine für sich sorgen konnte. Kaum noch etwas erinnerte an das verstörte Kind, das Kabil und ich vor gerade einmal 15 Jahren aus dem See gerettet hatten. Die junge Frau, die mir gegenüberstand war eine Schönheit, die sicherlich ihresgleichen suchte und ich freute mich, dass Adhama endlich eine Liebe gefunden hatte, die er bereit war uns vorzustellen.

 

„Es ist mir eine Ehre Tierra.“ Die junge Frau, sie war anscheinend etwas jünger als Adhama, verbeugte sich respektvoll, auch vor Kabil und wir nahmen sie freundlich in unsere Familie auf. Sie war fleißig und gewissenhaft. Sie erledigte alle Aufgaben, die wir ihr gaben und wurde zu einem wichtigen Teil unserer kleinen Familie. Seitdem wir Adhama gerettet hatten, hatte er uns als seine Eltern gesehen und selbst als er begriffen hatte, was mit seinen eigentlichen Eltern passiert war, hatte er darauf bestanden, dass wir auch seine Eltern waren, immerhin seien wir immer für ihn da gewesen und – um ehrlich zu sein – ich fühlte mich wie eine Mutter, zumindest so wie die Frauen in der Stadt es beschrieben, denn eigentlich konnte unsere Art keine Kinder bekommen.

 

„Ich verstehe euer Leid“, flüsterte ich leise zu einer Blume am Rande eines großen gepflasterten Weges. Sie war in einem Betonkasten eingesperrt, ihre Wurzeln waren eingeengt und ihren Wunsch, zu wachsen und sich zu vermehren, konnte sie nicht ausleben, weil es ihr an Platz mangelte. Sie musste sich um Nährstoffe und Wasser mit den anderen Pflanzen in ihrem Kasten streiten und keine von ihnen war glücklich. Es brach mir das Herz, hatte ich doch vor Jahrhunderten selbst die ersten Pflanzen auf diesem Planeten entstehen lassen.

 

Kabil hatte sich mit dem Wachstum der Stadt und des Wissens befasst, seitdem wir mit Adhama hergekommen waren. Ihm lagen diese ehemaligen Flüchtlinge mehr am Herzen als die Pflanzen, er konnte sie nicht sprechen hören, ihr Leid nicht verstehen. Je mehr sich die Menschen, die er so liebte, ausbreiteten, desto mehr litten die Pflanzen und die ganze Natur auf dem Planeten. Sie wurden zurückgedrängt und zerstört und Kabil kümmerte sich nicht darum, dass es auch mich verletzte.

 

Je älter Adhama wurde, desto mehr interessierte er sich ebenfalls für das Wissen und die Forschung und vergaß, was ich ihm beigebracht hatte, vergaß, wie man mit Pflanzen sprach und auch Chassah schien die Schönheit von Pflanzen nicht so sehr anzuziehen wie die Schönheit von Sternen und allem was außerhalb unserer Reichweite war.

 

Die Stadt wuchs und blühende Gärten wurden zerstört, während ich mich unter Schmerzen in meinem Haus wand und nichts dagegen tun konnte. So sehr ich auch gewollt hatte, niemals hätte ich meine Hand gegen meinen Sohn oder Kabil erhoben, niemals hätte ich etwas getan, dass den beiden schaden könnte oder auch nur einen Moment ihre Freude trüben würde.

 

Das einzige Problem war, dass ich merkte, wie durch die Zerstörung meiner Schöpfung auch meine Kraft verschwand. Mit jedem bisschen Wald, das abgeholzt wurde, mit jeder Blüte, die von einigen Menschen unbedacht abgerissen und verschenkt wurde, schwand meine Fähigkeit, das aufrecht zu erhalten, was ich vorgab zu sein und so sah man schnell Anzeichen, die bei normalen Menschen auf hohes Alter zurückzuführen waren. Meine Haut schlug Falten, meine Bewegungen wurden schwerfälliger und mein Gang gebückter.

 

Auch Kabil fiel es auf, aber zu Beginn wollte ich ihn damit nicht belasten, wollte seine Euphorie nicht schmälern, wenn er mir wieder von einer neuen Errungenschaft berichtete, die Kabil und er erreicht hatten. Doch irgendwann war es für mich unmöglich, noch weiter zu übersehen, was geschah. Kabil hatte wieder einmal von seinen und Adhamas Plänen geträumt und mir berichtet, dass die Stadt nun um einen See erweitert werden sollte, in dem ein Raumschiff würde landen können, das so groß war wie eine kleine Stadt. Der See sollte in der Nähe des kleinen Gebirges gebaut werden, das am Rand der Hauptstadt war.

 

Woran Kabil dabei jedoch nicht gedacht hatte, war, dass es genau dieser See gewesen war, an dem wir Adhama gefunden hatten und genau dort waren wir vor Jahrhunderten gelandet, nachdem wir den Planeten erschaffen hatten. Es war diese Stelle gewesen, an der ich Kabil das erste Mal wirklich gesehen hatte, an der wir uns das erste Mal nicht nur als bloßes Bewusstsein gespürt hatten, sondern als Wesen aus Fleisch und Blut, so wie ich es mir immer gewünscht hatte.

 

Diese Stelle war mir heilig, der Baum, der dort stand, war mein bester Freund weil er immer schon mein Wesen verstanden und unterstützt hatte. Es war meine erste Schöpfung gewesen und er hatte mich immer ermutigt, weitere Pflanzen zu erschaffen. Kabil und Adhama hatten sich über diese Wahl keine Gedanken gemacht, aber es war das erste Mal, dass ich ihnen sagte, was ich fühlte. Doch zu meiner großen Bestürzung war ihr Tatendrang größer als meine Bitte und sie planten weiter.

 

Ich verließ die beiden und kehrte in die Natur zurück, blieb bei meinem Freund, dem Baum und achtete darauf, dass ihm nichts geschah und Adhama und Kabil schienen meine Botschaft zu verstehen und wandten sich anderen Projekten zu, zumindest für einige Zeit. Ich blieb in der Natur, müde von dem zerstörerischen Verhalten der Menschen und dem Leid der Pflanzen, die in ihrer Nähe leben mussten.

 

Doch irgendwann kam die Idee des Landungssees anscheinend wieder in die Köpfe der Männer, die ich am meisten liebte und ich sah keinen anderen Ausweg mehr, meinen Standpunkt klar zu machen, als mich mit meinem besten Freund zu verbinden, ihm die Kraft zu geben, die in mir wohnte, damit er in Sicherheit wäre. Ich wusste, Kabil liebte das Wissen und den Fortschritt, aber mich liebte er mehr und niemals hätte er mich zerstört, um Fortschritt zu erreichen. Es war der einzige Weg gewesen, ein verzweifelter Weg, von dem es keine Rückkehr mehr geben würde.

 

Viele Jahre lang stand der Baum, von dem ich nun ein Teil war, unberührt da und auch das Land darum herum blieb, wie es war und ich hoffte, dass sie verstanden hatten, was ich wollte. Kabil hatte es auch verstanden, ihm tat es leid, zu was er mich getrieben hatte und er hatte jedem in der Stadt verboten, sich dem Baum zu nähern, jedem außer Adhama, denn er wusste um meine Liebe für unseren Ziehsohn. Eines Tages brachte er Chassah mit zu mir und berichtete mir erfreut, dass er und Chassah ein Kind erwarteten und dass sie ein Haus bauen wollten, direkt hier, damit der Baum, in dem ich mich befand, in ihrem Garten stünde und ich immer bei ihnen sei. In einem unüberlegten Moment pflückte Chassah dann eine der leuchtenden Früchte und biss hinein, bevor Adhama sie hatte aufhalten können. Ich merkte sofort, wie meine Kraft schwand, wie ein Teil von mir abgerissen wurde und verschwand, mir entglitt.

 

Auch Chassah spürte die Wirkung und überredete Adhama, es ihr gleich zu tun und er tat es. Kabil bemerkte es erst einige Wochen später, als sowohl Chassah als auch Adhama sich so sehr verändert hatten, dass es kaum zu übersehen war. Er kam sofort zu mir und ich merkte, wie etwas von unten an den Wurzeln riss und mich nach unten in den Grund riss, bis ich in einer Höhle stand, ohne Licht und ohne Aussichten auf frische Luft.

 

Mit einem lauten Schrei wachte ich auf. Ich spürte kalten Schweiß auf meiner Stirn. Ich lag auf dem Boden, aber ich war immer noch in der Höhle. Der ekelhafte Geruch von Schimmel lag immer noch in der Luft und auch die Feuchtigkeit war deutlich zu spüren.

 

“Was war das?“, fragte ich, doch ich bekam keine Antwort. Als ich die Augen öffnete, war ich alleine und saß an den Stamm des Baumes gelehnt. Ich spürte, wie eine plötzliche Wärme von dem vorher noch kalten Stamm ausging und meine Gedanken wollten im ersten Moment nicht dahin zurückkehren, woher ich eigentlich gekommen war. Wollten nicht an die erneute Schlacht denken, die sich über dem Planeten abspielte, aber ich konnte dem auch nicht ewig entkommen. Außerdem war Kabil verschwunden.

 

“Ich sollte wohl wieder gehen, nicht wahr?“, fragte ich an den Stamm gewandt. Ich wusste, für einen Außenstehenden musste das ziemlich verrückt wirken, aber nach allem, was ich erfahren hatte, verstand dieser Baum mich besser, als vielleicht mancher Mensch. Natürlich bekam ich von dem Baum keine Antwort, aber das brauchte ich auch nicht, um zu wissen wie Tierras Antwort ausfallen würde. Außerdem war es besser, diese stickige, vermoderte Höhle zu verlassen.

 

Die Lichter im Archiv waren immer noch erloschen, doch die Erschütterungen waren verschwunden. Nichts deutete mehr darauf hin, dass die Stadt beschossen wurde. Vielleicht hatte ich ja Glück und Kabil hatte sich tatsächlich für uns eingesetzt, nachdem ich Tierra in irgendeiner Form hatte helfen können.

 

 

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Mada --> Mutter

 

 

  Fortsetzung folgt …

 

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