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Kapitel 17

 

Aussprache und neue Erkentnisse

 

 

 

Unsicher, was gleich passieren würde, rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Mrs. Miller, anscheinend nicht nur die Mutter eines der beiden älteren Mädchen, sondern auch noch die Tante von Joey und Simon, hatte uns gerade gebeten, uns bis morgen für die zwei Wahlfächer zu entscheiden und ihr eine Nachricht zu schicken. Sie würde uns dann die Namen möglicher Mentoren zukommen lassen die uns unterrichten würden.

 

Dann hatte sie uns zum Schluss noch erklärt, dass wir nicht, wie in einer normalen Schule, alle zusammen Unterricht hatten, sondern, dass die meisten Fächer einzeln oder in kleineren Gruppen von 1-3 Personen durchgeführt werden würden. Die einzigen Fächer, die wir alle zusammen hatten, waren Antikisch und Mathematik, welche von Mrs. Miller und Daniel unterrichtet werden würden.

 

Jetzt verließen die meisten den Besprechungsraum wieder und ich hörte nur, wie Philipp sich leise bei seinem Vater beschwerte. Anscheinend hatte er gehofft, dass nach der Zerstörung der Erde die Schule für ihn passé war. „Was muss denn noch passieren, dass ich nicht mehr zur Schule muss?“, hörte ich ihn murmeln, als er mit seinem Vater an mir vorbeiging.

 

Ich blieb allerdings auf meinem Stuhl sitzen. Ich war mit diesem Treffen noch nicht fertig und ich sah die fragenden Blicke mancher Erwachsener, auch den meines Vaters. Wahrscheinlich hatte er zuerst gedacht, ich bliebe wegen ihm noch hier, dass ich mit ihm hätte reden wollen, aber als ich ihn nicht ansah, schien er bemerkt zu haben, dass dies nicht der Fall war und ging ebenfalls hinaus.

 

Als wir endlich alleine waren und sich die Türen des Raumes ohne Aufforderung wieder schlossen, merkte ich, wie Kevin langsam aufstand und zu mir kam. Er sagte kein Wort, sah mich nur an und als er bei mir angekommen war, legte er einfach seine Arme um mich und presste mich an sich. Wahrscheinlich hatte auch er gedacht, ich hätte es nicht überlebt. Wahrscheinlich hatte ihn die letzten Wochen dieselbe Unsicherheit geplagt wie mich.

 

Ich hatte Kevin seit der Nacht, in der meine Mutter gestorben war, nicht mehr gesehen. Und auf einmal, beinahe, als würde sich ein Schalter in mir umlegen, war ich wieder da. In meinem Zuhause. Ich sah wieder meine Mutter, wie sie mich anschrie, ich solle wegrennen, ich solle mich verstecken. Ich merkte gar nicht richtig, wie Kevin sich mit mir wieder auf die Stühle setzte und er meinen Kopf auf seine Schulter zog.

 

Eigentlich hatte ich gedacht, ich finge an zu akzeptieren, dass meine Mutter nicht mehr da war. Aber nun, da Kevin da war, da er ein Stück meines alten Lebens wieder in diese fremde Welt gebracht hatte, merkte ich, dass ich es bei weitem noch nicht verarbeitet hatte. Es war beinahe wie bei Kindern. Sie fielen hin, weinten los, egal ob jemand bei ihnen war oder nicht. Wenn dann jemand kam, dem sie vertrauten, die Mutter oder eine andere Bezugsperson, dann fingen sie wieder an zu weinen, egal, wie lange es schon her war, dass sie gefallen waren.

 

Bei mir war Kevin diese Person. Ich merkte, wie er mich noch fester an sich drückte, mich festhielt. Aber ebenso merkte ich, dass sein Körper zitterte, dass er nicht nur mich festhielt, sondern auch sich. Als ich genauer darauf achtete, hörte ich sogar, dass auch er leise weinte. Es war seltsam, weil ich noch nie einen Jungen hatte weinen sehen, zumindest keinen, der älter war als 7 Jahre, und Kevin schon gar nicht. Männer und Jungs wussten, wie sie mit Frauen umgehen sollten, die weinten, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. Einen Moment war ich still. Der Gedanke, dass Kevin weinte und die Frage, warum ließen mich selbst ruhiger, fokussierter werden. Ich stieß mich von ihm ab, aber nur ein bisschen, ich wollte ihm nur in die Augen schauen, vielleicht konnte ich da sehen was es war.

 

„Was ist los?“, fragte er mit brüchiger Stimme und sah mich verwirrt an. Jetzt konnte ich genau sehen, dass auch er weinte. Einen Teil von mir erstaunte es, dass er sich nicht schämte, vor mir zu weinen. Ein anderer Teil aber freute sich, dass er mir anscheinend so sehr vertraute, dass er bei mir weinen konnte.

 

„Du weinst … warum?“, fragte ich ihn dann zögerlich. Ich hatte Angst, dass er direkt wieder die Fassade des starken Jungen hochkommen lassen würde, eines Jungen, der nicht weinte, aber er tat es nicht. Er sah mich nur an, und erzählte mir dann leise, dass er nun genau wusste, wie ich mich fühlte, dass er seit drei Wochen wusste, wie es war, ein Elternteil zu verlieren. Sein Vater war bei dem Angriff auf die Erde ums Leben gekommen. Er war auf der Arbeit gewesen, als Ramstein angegriffen worden war. Man hatte kein Lebenszeichen von ihm mehr gefunden.

 

Ich weiß nicht, wie lange wir uns nach dieser Aussage einfach nur gegenüber saßen, wie lange niemand von uns auch nur einen Ton sagte, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Es tat mir leid, dass Kevin etwas Ähnliches widerfahren war wie mir, dass auch er jemanden verloren hatte, dem er sehr nahegestanden hatte, aber ich musste gestehen, dass ein kleiner Teil von mir, ein Teil, vor dem ich mich selbst ekelte, froh war, dass es jemanden gab, der genau wusste, wie ich mich fühlte.

 

„Ich bin froh, dass du es wenigstens geschafft hast“, sagte ich dann und als die Worte meinen Mund verlassen hatten, schlug ich meine Hände darüber zusammen. Warum hatte ich das jetzt gesagt? Wie konnte ich nur so kalt sein? Doch Kevin schien genau zu verstehen, was ich damit sagen wollte und nickte einmal kurz.

 

„Ich bin auch froh, dass du hier bist. Ich wusste ja nicht, was los war, nachdem die Polizei dich bei uns abgeholt hatte. Ich hatte Angst, dass du …“ Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wusste, was er sagen wollte, aber es war nicht geschehen und wir sollten uns auch keine Gedanken machen, was alles hätte passieren können, es war schlimm genug, so wie es war.

 

„Der Typ von eben. Das ist dein Vater, oder?“, fragte er mich nach einer weiteren Runde des Schweigens. Erst jetzt merkte ich, dass er meine Hand hielt und leicht mit seinem Daumen darüber strich. Ob um mich oder um sich zu beruhigen, wusste ich allerdings nicht genau.

 

Ich schnaubte kurz. Anscheinend sah ich ihm wirklich ähnlicher, als ich gehofft hatte, wenn selbst jemand, der ihn nicht kannte, es sofort bemerkte. „Ja, leider“, murmelte ich nun missmutig, aber Kevin schien mehr wissen zu wollen.

 

„Hast du ihn gefragt, warum er abgehauen ist?“, fragte er.

 

„Er ist nicht abgehauen, er hat nichts von mir gewusst. Mama ist abgehauen, als sie erfahren hat, dass sie mit mir schwanger ist“, erklärte ich ihm und es tat gut, endlich einmal wieder in meiner Muttersprache sprechen zu können. Natürlich, Englisch fiel mir nicht wirklich schwer, aber wenn man sein Leben lang Deutsch gesprochen hatte und auf einmal nur mit Englisch weiterkam, tat es auch gut wieder, die gewohnte Sprache zu sprechen.

 

„Also ist sie abgehauen?“, fragte er erstaunt. Auch er hatte meine Mutter kennengelernt, immerhin war sie seine Lehrerin gewesen. Ich nickte nur und hoffte, dass es ihm reichen würde, das zu wissen, aber das tat es augenscheinlich nicht. Also erzählte ich ihm alles, was ich wusste: dass sie nach Deutschland zurück gegangen war, und dass das Militär ihr Kevins Mutter und ihren Mann hinterhergeschickt hatte. Dass wir, meine Mutter und ich, anscheinend verfolgt worden waren und dass diese Leute sie letzten Endes auch erwischt hatten. Dann fuhr ich fort mit den Ereignissen, die mich bis hierher in diesen Raum gebracht hatten. „Darf ich dich etwas fragen? Ohne dass du sauer wirst oder lachst?“, fragte ich ihn dann und ich merkte, wie meine Stimme unsicher wurde. Er nickte nur aufmunternd, aber gleichzeitig etwas verwirrt.

 

„Wusstest du, warum ihr nach Deutschland gekommen seid? Warst du nur mit mir befreundet, weil du es sein musstest?“

 

„Meinst du das ernst?“, kam die Antwort aus seinem Mund geschossen, bevor ich das letzte Wort ganz gesprochen hatte. Er klang etwas komisch dabei und ich konnte nicht sagen, ob er belustigt oder wütend war. Ich sah ihn nur fragend an. „Meinst du deine Frage ernst?“, wiederholte er ruhiger, aber langsam. Ich nickte nur unsicher und er schüttelte seinen Kopf.

 

„Sei nicht sauer, okay?“, sagte ich nochmals, diesmal noch unsicherer als zuvor und blickte auf den Boden.

 

„Ich bin nicht sauer. Ich frage mich nur, wie du auf so eine dumme Idee kommen kannst. In den letzten drei Wochen, da …“

 

Dann, ich hatte eigentlich gedacht, so etwas passierte für einen selbst immer in Zeitlupe, nahm er schnell meinen Kopf in seine Hände und presste seine Lippen auf meine. Es war ein komisches Gefühl. Es fühlte sich einfach nicht so an, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich wusste, eigentlich hätte es sich gut anfühlen müssen, immerhin hatte ich vor einigen Stunden noch gedacht, ich sei in Kevin verliebt. Eigentlich hätte ein Kribbeln durch meinen ganzen Körper gehen sollen, aber da war nichts.

 

Als er mich wieder los ließ, war mein Kopf knallrot oder zumindest fühlte er sich so an und seiner war nicht anders. Er sah mich abschätzend an, doch auch er sah nicht so aus, als hätte ihm gefallen, was wir getan hatten. Es fühlte sich einfach falsch an.

 

„Ich … wollte nur etwas probieren …“, stammelte er. „Ich … als ich nicht wusste, ob du noch lebst oder nicht, da …“, ich hielt ihm meine Hand vor den Mund, denn ich wusste, wovon er sprach. Ich hatte dasselbe gefühlt, dieselben Gedanken gehabt wie er, zumindest nahm ich das an.

 

„Ich weiß. Ich hätte es auch probiert, aber du warst schneller.“, sagte ich und langsam lösten sich unsere Hände voneinander. „Ich denke, wir haben unsere Antwort.“, sagte ich dann und boxte Kevin spielerisch gegen die Schulter. Es war keine Liebe, die ich für ihn empfand, zumindest nicht die Liebe, die eine Frau und ein Mann teilten. Es war eher … Kevin war einfach mein bester Freund, wie mein Bruder. Jetzt, da wir das geklärt hatten, würden manche Dinge sicherlich einfacher zwischen uns sein. Wir beide wussten, dass der andere keine versteckten Gefühle hegte außer tiefer Freundschaft, oder zumindest nahm ich das an.

 

„Nur um das noch mal klarzustellen“, begann Kevin dann, als wir gerade aufstehen wollten. „Ich wusste zwar, dass wir während meines ersten Lebensjahres in den USA gelebt hatten, aber ich wusste nicht, wieso wir nach Deutschland gekommen waren. Ich hatte auch nie gefragt, weil für mich einfach klar gewesen war, dass mein Vater einfach nur versetzt worden war. Dass meine Eltern aufpassten, dass dir und deiner Mutter nichts passierte, habe ich erst erfahren, als die Patentante meiner Mutter, General O’Neill, plötzlich nach dem Tod deiner Mutter bei uns auf der Matte stand. Ich habe mitbekommen was sie geredet haben.“

 

Er hielt kurz inne, um die Sache sacken zu lassen. Anscheinend war ihm wichtig, dass ich alles aus seiner Sicht erfuhr. „Ich habe bis zu dem Angriff kein Wort mehr mit meinen Eltern geredet.“ Ich sah, wie sehr er das bereute und ich verstand, wieso. Er hatte mit seinem Vater nicht mehr geredet, er war sauer auf ihn gewesen, als er gestorben war.

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