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Kapitel 14

 

Das Gegenteil von Liebe

 

 

 

So ging ich also durch einen der anderen Eingänge zur Kantine wieder hinaus und versuchte, so schnell wie möglich wieder zurück zu meinem Quartier zu finden. Es war gar nicht so einfach, sich in diesen immer gleich aussehenden Gängen dieser seltsamen Stadt zurechtzufinden. Hätte ich denselben Ausgang genommen wie den, durch den ich auch in die Kantine gegangen war, hätte ich wahrscheinlich weniger Probleme dabei gehabt, mich zu orientieren, aber so war es beinahe ein hoffnungsloser Fall.

 

„Miss Lindbruch, kann ich Ihnen weiterhelfen?“, fragte eine ziemliche höfliche Männerstimme hinter mir. Die Stimme des Mannes war so speziell, dass ich sie nicht richtig einordnen konnte. Sie war weder besonders warm noch besonders kalt. Man konnte sie nicht sonderlich tief nennen, wahrscheinlich eher ein Bariton als ein Bass und definitiv kein Sopran. Aber ich war mir sicher, dass dieser Mann gewiss ein guter Sänger gewesen wäre, wenn er nicht gerade hier arbeiten würde. Ich meinte nicht einen von diesen modernen Teenie-Sängern, auf die die Leute in meiner Klasse immer so abgefahren waren, sondern ich meinte richtige Sänger, die ohne Computer und Synthesizer gute Stimmen hatten. Die nur mit ihrer Stimme in einem riesigen Saal voller Leute zu hören waren und die keine Mikrophone brauchten.

 

Als ich mich umdrehte, war ich etwas verwirrt, einen eher schmächtigen Mann mit einer Halbglatze zu sehen. Die Haare, die er noch hatte, waren zwar dunkel, aber das Grau war deutlich zu erkennen. Er lächelte mich freundlich an, aber es sah beinahe etwas gequält aus, so, als wäre er eher selten freundlich zu anderen Menschen.

 

„Ich … ich … ich denke, ich habe mich verlaufen. Ich war eben in der Kantine, etwas essen und ich habe anscheinend einen anderen Ausgang genommen …“, stammelte ich vor mich hin und ich merkte, wie kindisch ich doch klang. Aber was sollte ich tun, ich fühlte mich wirklich gerade ziemlich verloren hier. Ich hatte gesehen, wie groß diese Stadt war, ahnte, dass ich alleine wahrscheinlich Tage brauchen würde, bis ich den Weg zurück finden würde. Deswegen brauchte ich Hilfe und jede Hilfe, die nicht gerade von meinem Vater oder seinen Freunden kam, war gerne gesehen.

 

Er sagte nichts, sondern zeigte einfach mit seiner Hand auf den Gang hinter ihm und deutete mir, ihm zu folgen. Dies tat ich auch und eine ganze Weile ging ich einfach still hinter ihm her und es schien auch nicht so, als würde es den Mann stören, dass ich nicht redete. Ab und zu gingen wir an dem einen oder anderen Fenster vorbei und ich bemerkte, dass ich durch mein zielloses Umherlaufen anscheinend in einen vollkommen anderen Teil der Stadt gelangt war. Wahrscheinlich war ich auch ein Paar Treppen zu viel nach unten gegangen, denn das Meer war eindeutig näher als vom Balkon meines Quartiers aus.

 

„Wie gefällt dir die Stadt?“, fragte der Mann, als ich wieder einmal an einem Fenster kurz Halt machte, um mich umzusehen. Er stellte sich neben mich und sah ebenfalls nach draußen. Sein Blick schweifte in die Ferne weit über das Meer hinaus und seine Gedanken weilten höchstwahrscheinlich in der Vergangenheit.

 

„Ich habe mich sehr auf meinen Job hier gefreut, als ich vor 15 Jahren angekommen war“, sagte er und da ich nicht unhöflich wirken wollte, sah ich ihn interessiert an, auch wenn ich eigentlich keine Lust auf eine Geschichtsstunde hatte. „Ich dachte, ich könnte hier etwas verändern, dachte, mit mir würde hier eine geordnete und gutdurchdachte Zeit beginnen.“ Er hielt einen Moment inne, und ich ahnte, dass ein riesengroßes „aber“ kam. Ein „aber“, das wahrscheinlich seine Sicht der Dinge verändert hatte. „Leider haben die Völker in der Pegasus-Galaxie noch nie etwas von unserer Verfassung oder unseren Regeln gehört. Ich musste ziemlich schnell lernen, dass hier auf Atlantis andere Regeln galten und dass es meine Aufgabe war, unsere Verfassung und die Regeln, die auf der Erde galten, so zu drehen und zu wenden, dass sie mit denen hier übereinstimmten, zumindest auf dem Papier. Ich will nicht wissen wie oft wir bereits das Genfer Abkommen verletzt haben in den vergangenen Jahren.“

 

Wieder hielt er inne und ich versuchte schnell in meinem Kopf zusammen zu bekommen, wozu das Genfer Abkommen gut war. Das einzige, an das ich mich erinnerte, war, dass es irgendetwas zum Schutz von Kriegsgefangenen und Zivilisten während eines Krieges beinhaltete. Aber wahrscheinlich war das nur ein Bruchteil dessen, wofür dieses Abkommen tatsächlich stand.

 

„Diese Stadt hat viel zu bieten, Miss Lindbruch, verschließen Sie sich nicht vor ihr, sonst verschließt sie sich vor Ihnen“, sagte er dann und ich fand diesen Rat mehr als seltsam und um ehrlich zu sein, hatte ich genug von diesem seltsamen Mann. Ich hoffte daher inständig, dass wir bald irgendwo ankamen, wo ich schon gewesen war.

 

Und ich hatte Glück, denn als wir um die nächste Ecke bogen, fiel mir direkt wieder die Treppe mit der seltsamen Inschrift ins Auge. Wir waren also in der Ankunftshalle angekommen und von hier aus würde ich meinen Weg zurück sicherlich alleine finden.

 

„Von hier aus müssen Sie allerdings alleine weitergehen. Ich muss zurück in mein Büro“, sagte der Mann und zeigte auf einige Fenster in der oberen Etage des Saales. Ich konnte dort nicht viel erkennen, aber ich sah einen Schreibtisch und einige Bücherregale, das war also eindeutig ein Büro.

 

„Von hier aus werde ich zurück finden, danke Mr. …“, fiel mir auf einmal auf, dass ich seinen Namen gar nicht wusste. Ich hatte den ganzen Weg nicht danach gefragt, obwohl er offensichtlich wusste, wer ich war.

 

„Woolsey, Richard Woolsey. Ich denke, wir werden uns öfter über den Weg laufen“, sagte er und einen Moment sah ich ihn entgeistert an. Das war der Mann, dem ich verdankte, dass mein Zimmer voll war mit Sachen, die meiner Mutter gehört hatten. Er hatte veranlasst, dass sie zu mir gebracht wurden, er hatte dafür gesorgt, dass sie alle aufbewahrt worden waren. In einem plötzlichen Schwall von Emotionen merkte ich erst zu spät, dass ich den älteren Mann umarmt hatte. Er war eher versteift und brauchte eine kleine Weile, bis er mir etwas peinlich berührt auf die Schulter klopfte.

 

„Ich danke Ihnen für die ganzen Sachen. Es hilft mir, mich an sie zu erinnern“, sagte ich, als ich mich, ebenfalls etwas peinlich berührt, von ihm löste.

 

„Ihr Vater hatte angedeutet, die Sachen könnten wichtig für Sie sein“, sagte er und verschwand dann. Mein Vater? Ich stockte einen Moment und fragte mich, was mein Vater mit der ganzen Sache zu tun hatte, aber eigentlich was es doch offensichtlich gewesen. Wahrscheinlich hatte Woolsey nur die endgültige Anweisung gegeben die Sachen zu mir bringen zu lassen, die Idee war von meinem Vater gekommen.

 

Ich sah mich noch einen Moment in der Ankunftshalle um. Jetzt war es eindeutig ruhiger hier und auf einer Galerie eine Etage höher standen nur wenige Leute und die sahen nicht danach aus, als würde diese Nacht noch viel passieren. Sie konnten direkt auf das Stargate sehen und ich ahnte, dass sie dafür zuständig waren, dass alles hier in der Stadt mit rechten Dingen zuging.

 

Da ich im Moment doch schon ein bisschen zu müde war, entschloss ich mich morgen vor der Besprechung nochmals herzukommen und mir den Ankunftssaal genauer anzusehen. Wahrscheinlich gab es hier mehr Interessantes als diese Inschriften, die ich seltsamerweise lesen zu können schien.

 

Als ich dann endlich an der Tür meines Quartieres ankam, freute ich mich schon darauf, mich einfach in das Bett fallen zu lassen. Ich hatte es vorher schon ausgiebig getestet und die Matratze schien sich genau auf meinen Körper einzustellen. Ich stand gerade in meinem Badezimmer, einen Pyjama meiner Mutter tragend, und putzte mir die Zähne, als es auf einmal an meiner Tür klingelte. Es war ungewohnt, zu wissen, dass derjenige, der dort klingelte, wirklich nur zu mir wollte. Zuhause in Deutschland, wenn ich das nun überhaupt noch Zuhause nennen konnte, hatten meistens Leute vor der Tür gestanden, die meine Mutter hatten sprechen wollen, wenn ich die Tür aufgemacht hatte. Es war selten gewesen, dass jemand für mich geklingelt hatte. Und ebenso selten war es gewesen, dass ich wirklich eine Wahl gehabt hatte, ob ich die Leute nun sehen wollte oder nicht. Meistens hatte meine Mutter mich dazu gedrängt, die Tür zu öffnen oder hatte die Leute einfach hereingebeten, ohne mich wirklich zu fragen.

 

Ich wartete einen Moment, überlegte, was ich machen sollte, immerhin trug ich einen Pyjama. Andererseits, was erwartete jemand, der um diese Uhrzeit klingelte? Ich ging also zur Tür und öffnete sie mit einer Bewegung meiner Hand. Bevor ich die Tür wieder schließen konnte, stand mein Vater auch schon in meinem Quartier. Er sah sich einen Moment um und ich wollte ihn schon hochkant aus meinem Quartier schmeißen, als er sich das Bild von ihm und meiner Mutter nahm und ich mich daran erinnerte, dass ich mich entschieden hatte, zumindest zu versuchen ihn kennen zu lernen.

 

Als ich mir ihn genauer ansah, erkannte ich den doch etwas wehmütigen Blick, mit dem er das Bild meiner Mutter ansah.

 

„Hast du ihr damals das Buch geschenkt?“, fragte ich vorsichtig und zeigte auf das Buch, das ich vor dem Essen noch gelesen hatte. Er nickte kurz, starrte aber immer noch auf das Bild. Wenn er sie wirklich geliebt hatte, dann vermisste er sie wahrscheinlich. Ich sah ihm auch an, dass er etwas sagen wollte, dass er es aber nicht konnte. Er setzte sich einfach auf meinen Schreibtischstuhl, legte das Bild auf seinen Schoß und sah mich an. Er sah mich an, als würde er mich studieren, als wollte er genau wissen, was los war und als würde er irgendetwas erwarten.

 

Aber was konnte er bitte von mir erwarten? Sicherlich nicht, dass ich ihm in die Arme fiel, so verrückt konnte wahrscheinlich selbst er nicht sein. Der Teil von mir, der ihn verabscheuen wollte, meldete sich wieder. Vielleicht erwartete er doch genau das, vielleicht dachte er, mit der Geste, mir die Sachen meiner Mutter bringen zu lassen, sei alles vergeben und vergessen, was in den letzten Jahren passiert, oder besser gesagt, nicht passiert war. Doch bevor meine Wut richtig aufkochen konnte, stand mein Vater wieder auf und kam näher.

 

Ich hoffte inständig, dass er mich nicht umarmen würde und war froh, als ich merkte, dass er nichts dergleichen vorhatte. Er sah mich einfach weiter an.

 

„Du bist deiner Mutter ähnlicher, als du wahrscheinlich denkst“, sagte er dann doch nach einer Weile. Seine Stimme war leise, aber er hatte auch nicht laut sein müssen, in meinem Quartier war es so leise, dass ich wahrscheinlich selbst einen Stecknadelkopf hätte fallen hören.

 

„Ich weiß, nicht was ich denken soll. Anscheinend habe ich sie nicht gekannt“, sagte ich dann, als ich über seine Worte nachdachte. Vor einiger Zeit hätte ich ihm noch hunderte Sachen aufzählen können, die ich mit ihr gemeinsam hatte und die mich von ihr unterschieden. Jetzt war ich mir meiner Sache nicht mehr so sicher. Zumindest nicht, wenn ich mit jemandem sprach, der sie aus ihrem früheren Leben kannte, dem Leben vor mir.

 

Dann schwieg er wieder und das war genau das, was ich gewohnt war. Um ehrlich zu sein, hatte der Teil, der sich bemühen wollte, mit meinem Vater klar zu kommen, gewünscht, dass er mir versicherte, dass sie mich geliebt hatte, dass sie … ich wusste selbst nicht genau, was ich erwartet hatte, aber es war auf keinen Fall, dass er einfach nur schweigend dastand und vor sich hinstarrte. Seine Reaktion gab natürlich der anderen Hälfte von mir Futter und ich merkte, wie die Wut langsam überzukochen drohte.

 

„Warum bist du eigentlich hier? Einfach hier rein zu kommen und mich anzustarren wie ein Geisteskranker! Meinst du wirklich, nur weil du mir Mamas Sachen hast bringen lassen, sei alles wieder gut?“, fragte ich ihn und meine Stimme wurde unweigerlich lauter. Ich merkte direkt, wie sehr meine Stimme doch in diesem Ton der meiner Mutter ähnelte, wenn sie geschrien hatte. Als mein Vater im ersten Moment nicht zu reagieren schien, ging ich zur Tür und öffnete sie für ihn. „Geh! Ich möchte jetzt schlafen!“, sagte ich bestimmt und unterkühlt und als er merkte, dass ich mich anscheinend nicht mehr beruhigen würde, solange er noch hier war, ging er.

 

Ich fühlte mich unheimlich erschöpft, als sich die Tür zu meinem Quartier geschlossen hatte. Zu Beginn hatte ich gedacht, mein Vater würde mich vollkommen kalt lassen, er würde mich einfach nicht interessieren, doch anscheinend wühlte er meine sowieso schon ziemlich chaotische Gefühlswelt noch mehr auf und ich hasste ihn dafür. Doch dann fiel mir auf einmal wieder etwas ein, dass mir meine Großmutter immer gepredigt hatte, wenn ich auf jemanden wütend gewesen war und gesagt hatte, dass ich diese Person hasste: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, es ist Gleichgültigkeit."

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