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Kapitel 18

 

Ein ernster Zwischenfall

 

 

 

 

 

„Wann musst du wieder los?“, fragte Seth mich als ich mich mit meiner Familie zum Mittagessen an unseren gemeinsamen Esstisch setzte. Ich hatte im Moment nachmittags immer eine längere Pause als alle anderen und da wir nicht ganz so weit von den Studios weg wohnten, und mittlerweile jeder ein funktionierendes Handy hatte, konnte ich immer für einige Stunden nach Hause fahren, um zu kochen und mit meiner Familie gemeinsam Mittag zu essen. Es hatte also eindeutig Vorteile diesen Job kurz nach einer Schwangerschaft zu machen, alle nahmen Rücksicht auf einen.

„Ich werde in 2 Stunden wieder am Set gebraucht“, sagte ich und strich ihm leicht über den Kopf als ich ihm seinen Teller hinstellte. Sich beschwerend fuhr er sich selbst noch einmal durch die Haare, um die vermeintliche Unordnung, die ich dort gestiftet hatte, wieder gerade zu biegen. Was seine Haare anging war er nicht minder empfindlich als sein Vater. „Glaub aber ja nicht, dass wir nicht über den Vorfall von heute Morgen sprechen, junger Mann“, sagte ich und ließ meine Stimme etwas sinken. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, ich würde nicht erfahren, dass er und zwei andere Jungs nach einer kleinen Prügelei in der Schule hatten getrennt werden müssen. Er sah seinen Vater einen Moment böse an, aber ich machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem ich ihm sagte, dass ich, auch wenn ich vielleicht nicht rund um die Uhr anwesend war, einfach alles wusste, was sich in diesem Haus abspielte.

Auch Janine nahm regelmäßig an unseren gemeinsamen Mittagessen teil und schien sie zu genießen. Nachdem ich den Traum gehabt hatte, war es mir immer schwerer gefallen, in ihr einfach nur unser Au-pair zu sehen. Immer wieder hatte ich in ihr auch diese junge Frau aus meinen Träumen gesehen, Nefertaris Schwester Basetis.

„Nana hat zu uns immer gesagt: ,Der liebe Gott und ich, wir wissen alles‘“, fügte Janine hinzu. Nana? Oder hatte ich es falsch verstanden und sie hatte Mama gesagt? Nein, so sehr konnte ich mich nicht verhört haben. Außerdem war ich nicht die einzige, die Janine fragend ansah, und mir fiel auf einmal auf, dass wir viel zu wenig über unser Au-pair wussten. Der Stress mit dem Film und der Geburt der Zwillinge hatte uns davon abgehalten, einander wirklich kennenzulernen.

„Nana war ihre Betreuerin“, erklärte nun Seth, der anscheinend die verwunderten Blicke seiner Eltern bemerkt hatte. So wie es aussah hatte er schon mehr Zeit dafür gehabt, mit Janine auch über ihre Vergangenheit zu reden. Jetzt waren wir jedoch noch verwirrter.

Janine sah eindeutig nicht ganz glücklich damit aus, wie sich unser Essensgespräch entwickelte, aber auch sie musste geahnt haben, dass dieses Thema irgendwann auf den Tisch kommen würde. Deswegen versuchte sie wahrscheinlich erst gar nicht das Thema zu wechseln, sondern schluckte nur ihr Essen runter und bereitete sich vor.

„Meine Schwester und ich haben unsere Eltern ziemlich früh verlassen und sind in ein betreutes Wohnen für Jugendliche gegangen. Nana war unsere Betreuerin, die bei uns wohnte“, begann Janine und ich wusste, sie musste die Frage in unseren Augen sehen, aber sie machte dennoch eine kurze Pause. „Meine Eltern hätten niemals Kinder bekommen sollen“, fuhr sie schließlich fort. „Meine Mutter war gerade einmal 16, als sie meine Schwester bekommen hat, und meine Großmutter hat sie aus dem Haus geschmissen. Da mein Vater schon volljährig war und eine eigene Wohnung hatte, sind sie zusammengezogen.“ Es wunderte mich, dass sie so distanziert von ihren Eltern sprach, dass sie behaupten konnte, sie hätten niemals Kinder bekommen sollen. Immerhin war sie dieses Kind, das nach ihren Worten nie auf die Welt hätte kommen sollen.

„Was ist passiert?“, fragte nun Orlando. Anscheinend irritierte auch ihn diese Distanziertheit, die wir in Janine noch nie zuvor gesehen hatten.

„Mein Vater war ein Junkie, deswegen waren meine Großeltern auch immer gegen ihn. Nach drei Jahren und zwei Fehlgeburten hat meine Mutter es noch einmal geschafft sich schwängern zu lassen.“ Dann berichtete sie, dass das Jugendamt, eine Institution in Deutschland, die Kinder eigentlich vor körperlichem und seelischem Schaden bewahren sollte, nichts gemacht sondern einfach weggesehen hatte, während ein Junkie und seine vollkommen unfähige und bald selbst drogen- und alkoholabhängige Freundin zwei Kinder aufzogen. Selbst die Lehrer hatten sich nicht über den schlechten Zustand der beiden Mädchen gewundert.

„Als Samantha dann 16 wurde, hat sie einfach einen Koffer genommen, unsere Sachen gepackt und ist mit mir abgehauen. Eigentlich wollte sie bei Freunden unterkommen, doch die Polizei hat uns mitten in der Nacht abgefangen. Aber wir haben uns geweigert, wieder zu unseren Eltern zurückgebracht zu werden.“ Sie hatten Janine und ihre Schwester trennen wollen, die eine in ein Heim, die andere in eine Pflegefamilie geben wollen, bis sie selbst volljährig gewesen wären. „Wir hatten Glück, dass Nana in diesem Heim arbeitete und sich dafür eingesetzt hat, dass wir nicht getrennt wurden. Sie hatte schon lange den Wunsch gehabt, eine Einrichtung zu führen, in der Kinder aus schlechten Familienverhältnissen lernten, ihre eigenes Leben zu leben und nicht die selben Fehler zu machen wie ihre Eltern.“

Eine lange Zeit war es ziemlich still im Esszimmer des Hauses Bloom und jeder von uns versuchte das gerade Gehörte zu verarbeiten. Es war nicht einfach zu hören, dass es wirklich Eltern gab, die sich nicht um ihre Kinder kümmerten, nicht wenn man selbst einfach alles versuchte, um seinen Kindern gerecht zu werden. Nun verstand ich auch, warum Janine sich erst so spät dazu entschieden hatte, Au-pair zu werden. Immerhin hatte sie in dem Alter, in dem andere diese Erfahrungen machten, wahrscheinlich zu viel mit sich selbst zu tun gehabt. Ich war so in diese Gedanken versunken, wie es Janine wohl in den letzten Jahren ergangen war, dass erst Orlando mich wieder daran erinnern musste, endlich zu gehen, damit ich nicht zu spät kam.

Den zweiten Teil meines Arbeitstages würde ich jedoch nicht direkt am Set verbringen, sondern in den Räumen der Park Road Post. In ungefähr einer Stunde würden hier alle Zwerge und Bilbo einmarschieren, um das erste Mal das ganze Skript vorzulesen. Es war sozusagen die erste Probe, die zeigen sollte, ob die ganze Sache einen guten Fluss hatte, ob alles so zusammenpasste, wie Fran, Philippa und Peter sich das vorstellten.

Als ich meinen Wagen auf dem kleinen Parkplatz abgestellt hatte, sah ich schon Sebastian, Peters Assistenten, am Eingang auf mich warten, und als er mich aussteigen sah, kam er auch schon direkt zu mir.

„Hör zu, Peter will es nicht zugeben, aber es geht ihm nicht so gut“, informierte er mich, was für mich bedeutete, dass ich meinem Freund und Boss heute so gut es nur ging zur Hand gehen würde. Schon seit einiger Zeit hatten ihn immer wieder Magenschmerzen geplagt und ich konnte mir bestens vorstellen, woher das kam. Bevor die Dreharbeiten überhaupt angefangen hatten, hatte Der Hobbit schon so viel Arbeit und Nerven gekostet, da waren die Verhandlungen und Vorbereitungen für die Herr der Ringe-Filme eindeutig angenehmer gewesen, zumindest für Peter. Damals hatte er nur die Erwartungen an sich selbst zu erfüllen, aber jetzt saßen ihm sozusagen Milliarden von Menschen im Nacken, die in ungefähr eineinhalb Jahr einen Film erwarteten, der alles übertraf, was man bisher gesehen hatte.

„Hier,“ ich kramte schnell eine kleine Dose aus meiner Tasche und drückte sie Sebastian in die Hand, „misch das Pulver gleich in seinen Tee. Er wird es nicht schmecken, aber es wird ihm helfen.“ Sebastian guckte mich skeptisch an und ich konnte es ihm nicht verdenken, immerhin sollte man nicht einfach irgendetwas in den Tee seines Bosses kippen.

„Das MCP, nur in Pulverform“, erklärte ich und drehte die Verpackung so, dass auch Sebastian die Aufschrift lesen konnte. Er steckte sich das Pulver in die Jackentasche und nickte kurz dankend. Wir alle wussten, dass Peter wahrscheinlich selbst mit dem Kopf unter seinem Arm zum Set gekommen wäre, und deswegen wollten wir ihm so gut es ging helfen und ihm seinen Tag so angenehm wie nur möglich gestalten. Caro und ich hatten sogar schon einmal ein längeres Gespräch mit ihm und Fran gehabt, aber Peter hatte sich von uns Frauen nicht überzeugen lassen, einfach einmal einen Gang zurückzuschalten und zumindest für eine Woche das Ruder aus der Hand zu geben.

„Du gehst jetzt zu ihm, ich kümmere mich um die Organisation für die Skript-Lesung“, sagte ich nur noch während wir schon in das Gebäude gingen. Sebastian nickte mir nur zu und beschleunigte seinen Schritt, um Peter direkt einen Tee mit dem hoffentlich helfenden Medikament zu machen.

„Er will einfach nicht hören!“, vernahm ich dann die ziemlich gereizte Stimme von Caro, die wahrscheinlich jeden Moment in einem der vor mir liegenden Gänge zu sehen sein würde. In der Tat schien sie gerade an Sebastian vorbeigerauscht zu sein und sah ziemlich genervt aus. „Rede du mit ihm! Auf mich hört er nicht!“

„Und du meinst, dass er auf mich hört?“, fragte ich eher rhetorisch, denn wir beide kannten die Antwort. Wenn Peter noch nicht einmal auf Fran hörte, dann war die Sache für uns schier hoffnungslos.

„Der Mann arbeitet sich irgendwann noch in sein eigenes Grab!“, rief Caro verzweifelt aus und ich wusste, was sie meinte. Dass Peter die Sache nicht leichter angehen wollte war eines. Dass er sich aber kategorisch weigerte, sich von einem Arzt einmal untersuchen zu lassen, und sei es hier am Set, war eine andere. So lange ich Peter kannte hatte er es immer abgelehnt, einen Arzt zu sehen, selbst als er damals in den Remarkables umgeknickt und sich, so unsere laienhafte Diagnose, sein Fußgelenk verstaucht hatte.

„Da muss ich dir leider Recht geben. Aber ich habe Sebastian etwas gegeben, dass zumindest seine Schmerzen lindern sollte.“ Daraufhin gingen wir beider erst einmal unsere eigenen Wege. Caro, um noch eine letzte Skriptänderung bei Fran abzuholen, und ich, um sicherzugehen, dass in dem Raum, in dem die Lesung stattfinden würde, alles vorbereitet war. Aber natürlich, wie es meistens bei solchen Sachen war, sah es dort so chaotisch aus, dass ich beinahe den Erstbesten, der mit unter die Nase gelaufen war, genommen und angeschrien hätte. Ich hatte mich aber gerade noch beherrschen können und den jungen Mann, ich kannte seinen Namen nicht, gebeten, denjenigen zu holen, der für die Herrichtung des Raumes verantwortlich war.

Die junge, rothaarige Frau, die anscheinend erst seit kurzer Zeit bei PRP war, kam dann auch schon schnellen Schrittes zu mir. Sie sah ziemlich nervös aus und ich ahnte, dass sie tatsächlich noch nicht lange arbeitete, geschweige denn hier.

„Hi, ich bin Alex. Man hat mich eingeteilt, den Raum fertigzumachen“, sagte sie und da sie so nervös und neu war, versuchte ich mich noch etwas mehr zusammenzureißen.

„Hi Alex. Teti, stellvertretende Erste Regieassistentin“, stellte ich mich vor und zog die junge Frau dann etwas weiter weg von den neugierigen Ohren ihrer Untergebenen. „Hör zu, Peter geht es heute gar nicht gut. Ich möchte, dass hier in einer Stunde alles bereit ist für die erste Skriptlesung.“ Sie nickte nur und sah mir etwas verängstigt in die Augen. „Die Zwerge und Bilbo werden hier sein und ich möchte nicht, dass irgendetwas schief läuft.“ Wieder nickte sie. „Außerdem möchte ich, dass ihr das Sofa aus dem Editing Room hier reinbringen lasst. Stell es da hin, wo ihr geplant habt Peter hinzusetzten.“

„Aber Paul-“, setzte sie schon an, aber ich unterbrach sie direkt.

„Paul wird es schon verstehen.“

„Er schläft dort gerade“, lenkte sie ein und ich sah sie überrascht an.

„Überlass das mir. Schicke zwei deiner Leute in 10 Minuten, damit sie das Sofa abholen.“ Und dann war ich auch schon wieder verschwunden. Ich hatte wirklich keine Lust, jetzt auch noch hier zu bleiben und die Junge Frau an die Hand zu nehmen. Wenn sie Probleme hatte, sollte sie zu ihren Vorgesetzten gehen. Ich fand es schon schlimm genug, dass ich mich jetzt darum kümmern musste, dass einer ihrer Kollegen dem Land der Träume entstieg.

Ohne große Rücksicht auf Paul stieß ich die Tür des Raumes auf. „Aufwachen, Dornröschen, dein Bett wird gebraucht!“ Der gerade noch laut schnarchende Editor schreckte förmlich hoch und sah mich einen Moment ziemlich orientierungslos an. Er stand zwar von seinem temporären Bett auf, sodass die kurz nach mir erschienenen Männer das Sofa wegtragen konnten, aber so richtig verstanden hatte er es immer noch nicht, als ich ihn etwas vorsichtig in seinen Schreibtischstuhl setzte. „Peter geht es nicht gut und wir brauchen das Sofa für ihn.“ Paul nickte nur, aber ich war mir sicher, dass er diese Unterhaltung wahrscheinlich in wenigen Minuten wieder vergessen hatte, wenn er sein Nickerchen auf seinem Stuhl fortsetzte.

Gerade als ich wieder auf dem Weg zurück war und um die Ecke biegen wollte, merkte ich, wie ich gegen etwas lief und direkt auf meinem Hintern landete. Als ich aufsah, blickte ich in das mehr oder weniger amüsierte Gesicht von Jed, gegen den ich anscheinend gelaufen war. Er streckte seine Hand aus, um mir hochzuhelfen.

„Hat man dir nicht gesagt, dass man nicht durch die Gänge laufen soll?“, fragte er leicht grinsend und ich hatte einen inneren Drang, ihm wie ein kleines Kind die Zunge herauszustrecken, doch das ließ ich lieber, immerhin wollte ich hier ernstgenommen werden. Also stand ich einfach nur auf, klopfte mir den nicht vorhandenen Staub von den Kleider und brachte Jed schon einmal in den mittlerweile fertigen Aufnahmeraum, in dem wir die Lesung durchführen würden. Ich war erleichtert zu sehen, dass Alex es anscheinend doch noch geschafft hatte, ihre Leute zur Ordnung zu rufen und alles rechtzeitig fertig zu bekommen. Das Letzte, was noch fehlte, waren die Getränke und ein paar Knabbereien, aber dafür war Sebastian zuständig, nachdem er sich um Peter gekümmert hatte.

Nach und nach trafen dann auch die anderen ein, von denen ich die meisten schon kannte, und nur noch einige wenige stellten sich mir zum ersten Mal vor. Von diesen wenigen beeindruckte mich der hochgewachsene Graham mit seiner Halbglatze und seinem Bart am meisten. Ich hatte ihn schon auf diversen Bildern im Art Department gesehen, immerhin würde ich ja in wenigen Wochen als sein Scale Double einspringen müssen.

„Ich kann mir wirklich noch nicht vorstellen, wie Peter so eine hübsche Frau in so einen Grobian verwandeln will“, bemerkte Mark, der anscheinend auch gerade eingetroffen war, kurz und erntete dafür einen ziemlich missmutigen und warnenden Blick des Schotten.

Nur die Tatsache, dass Peter dann mit Fran und Martin Freeman, den ich persönlich noch nicht kennengelernt hatte, den Raum betrat, schien eine Eskalation zwischen dem rauen Krieger Dwalin und dem mütterlichen Dori zu verhindern. Als ich Fran ansah und sie mir dankend zunickte wusste ich, dass Peter den Tee getrunken hatte und sich sicherlich bald etwas besser fühlen würde. Dann stellte Martin sich noch kurz vor und es kam einem beinahe so vor wie damals in der Schule, wenn ein neuer Schüler kam, der sich erst einmal einfinden musste.

Als sich dann alle gegenseitig noch einmal vorgestellt hatten und endlich saßen, fing Peter an zu lesen. Es war klar, dass er die Einleitung und die Regieanweisungen lesen würde, während die Schauspieler nur ihre Parts übernahmen. Nur die weniger auftretenden Rollen wurden unter den anderen noch aufgeteilt und selbst ich, eigentlich hätte ich ja beinahe damit rechen müssen, wurde mit eingespannt. Glücklicherweise nicht zu viel. Ich sollte einfach nur die Zeilen von Frodo vorlesen, während Martin Ian Holms Part übernahm und auch den älteren Bilbo vorlas.

Nachdem jeder das erste Mal seiner Figur eine Stimme gegeben hatte, war die vorher doch etwas nervöse Stimmung langsam vergangen und alle schienen sich langsam in ihre Rollen einzufinden. Der einzige, der immer noch Probleme zu haben schien, war Richard. In einem Gespräch während Orlandos Geburtstag hatte er mir seine Bedenken mitgeteilt. Er wusste, dass Peter Thorin jünger gemacht hatte, aber Richard war sich nicht sicher, ob er der Rolle gewachsen war, ob er ein würdiger Thorin sein würde. Ich war mir da allerdings sicher. Ich hatte zwar auch den weißbärtigen, hochgeborenen Thorin aus den Büchern im Kopf, aber Peter hatte mir bereits genug Bilder gezeigt und ich kannte in gewissem Maße auch den Verlauf der Geschichte, dass ich mir Richard tatsächlich ziemlich gut in der Rolle vorstellen konnte.

Bei dieser Lesung schien Richard jedoch nicht mit der Figur an sich ein Problem zu haben, sondern eher mit seiner Stimme. Es schien beinahe so, als suche er eine andere Tonlage als seine normale, um Thorin ein gewisses Alter und mehr Weisheit zu verleihen. Ich konnte mir nur vorstellen, wie schwer es sein musste, auf einmal wie selbstverständlich in einer etwas veränderten Tonlage zu sprechen. Dementsprechend braucht er auch ziemlich lange, um sich sicher darin zu fühlen.

„Thorin führt Bilbo auf das Sims des Vordaches“, las Peter aus dem Skript vor und allen war klar, dass jetzt eine Szene folgte, in der Thorin Bilbo etwas aus seiner Vergangenheit erzählte.

„Ist das vor oder nachdem sie miteinander schlafen?“, fragte Richard und die trockene Art, in der er das sagte, ließ mich den Schluck Wasser, den ich gerade im Mund hatte, beinahe wieder ausspucken. Glücklicherweise für die anderen, für mich selbst war das eher kein Glück, konnte ich mich noch soweit beherrschen, dass ich mein Trinken nicht über alle Anwesenden verteilte, sondern meine Lippen geschlossen hielt. Leider hatte das zur Folge, dass mir das sprudelnde Wasser geradewegs aus der Nase lief und alles dort drin furchtbar brannte.

Natürlich hatte ich damit eine Horde lachender Männer auf meiner Seite, während Fran mir nur mitfühlend eine Taschentuchpackung in die Hand drückte.

„Echt jetzt?“, fragte ich Richard, der genauso wie die anderen in schallendes Gelächter ausgebrochen war und nun nur unschuldig mit den Schultern zuckte. Was mich jedoch wunderte war, dass Peter nicht lachte. Er saß auf dem Sofa und schien eher konzentriert auf den Boden zu sehen. Mit einem Blick auf Fran merkten wir beide, dass es Peter anscheinend nicht gerade gut ging.

„Ich denke, den Rest schaffen wir heute nicht mehr“, sagte Fran plötzlich und schickte alle nach Hause. Den Rest des Skriptes würden wir bei der nächsten Lesung fertig lesen. Ich verabschiedete mich noch von allen und wollte gerade wieder in den Raum zurückgehen, um zu sehen, was mit Peter war, da kam mir eine ziemlich bleiche Carolynne schon entgegen. Sie hielt mit zitternden Händen ihr Handy in der Hand und schien mit jemandem zu telefonierte. Sie schüttelte noch den Kopf, als ich weiter gehen wollte. Aber irgendwie hatte ich das nur halb registriert, denn als ich in den Raum trat, hätte ich mir gewünscht, gerade nicht hineingegangen zu sein. Denn vor dem Sofa, auf dem Peter nun ziemlich zusammengesackt in Frans Armen lag, schweißüberströmt und ziemlich bleich, hatte sich eine hässliche Lache auf dem Teppich.

„Was ist passiert?“, fragte ich besorgt, doch Fran war logischerweise mit ihrem Mann beschäftigt, der sich erneut übergeben musste, und ich sah, warum Carolynne so geschockt gewesen war. Ich drehte sofort auf dem Absatz um und holte einen Eimer aus einem der Reinigungsräume. Den gab ich Fran, die selbst ziemlich ängstlich aussah ob der Farbe des Erbrochenem.

„Der Krankenwagen ist gleich da“, informierte uns dann Caro von draußen. Für eine Schwangere wie sie war es sicherlich besser, jetzt nicht hier reinzukommen. Es reichte, wenn wir eine Person hatten, um die wir uns Sorgen machen mussten. Ich erhob mich wieder vom Boden und schob Carolynne regelrecht aus dem Raum, denn ich konnte verstehen, dass sie nur helfen wollte.

„Geh du nach Hause und ich bleibe hier, bis der Arzt da ist“, sagte ich ihr und bevor sie protestieren konnte hatte ich schon die Nummer ihres Mannes gewählt und bat ihn sie abzuholen. „Das ist wirklich nichts für Schwangere“, versuchte ich ihr klarzumachen und nach einem weiteren erfolglosen Versuch verstand sie es anscheinend, denn sie ging mit der Bitte, auf Peter aufzupassen, hinaus, um auf ihren Mann zu warten.

Als der Notarzt kam, war Peter kaum noch zu etwas in der Lage. Seine Gesichtsfarbe ähnelte der der Taschentücher, mit denen Fran immer wieder den Schweiß von seiner Stirn abrieb. Mit zwei Mann mussten sie ihn stabilisieren, damit sie ihn überhaupt in den Krankenwagen bekamen. „Wir bringen ihn ins Krankenhaus. Dort muss herausgefunden werden, was er hat“, sagte einer der Sanitäter und ich versprach mit Fran direkt hinterher zu fahren. Im Krankenhaus selbst würde ich dann Orlando anrufen und ihm sagen, dass ich erst einmal mit Fran hierbleiben würde, bis wir etwas Genaueres wussten.

 

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