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Kapitel 25

 

Annäherung

 

 

 

„Weißt du eigentlich, was wir für ein Glück haben?“ Ich stand gerade in der Tür des Trailers, den Orlando zwischen seinen Drehpausen benutzte, um sich auszuruhen und sich um Seth zu kümmern. Er hatte nicht gemerkt, dass ich gekommen war, so fasziniert war er von seinem schlafenden Sohn gewesen. „Wir haben so viele Freunde, die uns helfen. Und sie werden für den Rest unseres Lebens unsere Freunde bleiben. Du wirst mit ihnen aufwachsen, als wären es Verwandte, die einfach nur etwas weiter weg wohnen.“ Ein kleiner Riss tat sich bei diesen Worten auf. Ich hatte ganz vergessen, dass die Dreharbeiten bereits in einem Monat abgeschlossen sein würden. Am 22. Dezember war der offiziell letzte Drehtag. Und wir hatten bereits den 9. November. Sicherlich würde Orlando nach dem Dreh wieder zurück zu seiner Familie gehen, zurück nach London, und ich würde die beiden wahrscheinlich nur noch sehr selten sehen. Wenn ich Glück hatte vielleicht einmal im Jahr. Immerhin war es nicht gerade eine kleine Strecke von London bis hier her.

 

Ich hatte mir immer etwas vorgemacht. Ich würde für den Kleinen nie wie eine Mutter sein, auch wenn ich so fühlte. Er würde mich wahrscheinlich in einigen Jahren nicht mal mehr kennen. Er und sein Vater würden jedoch sicherlich ein Loch in meinem Herzen hinterlassen, wenn sie Neuseeland verlassen würden. Und so würde es mir nicht nur mit den beiden gehen. Elijah, Viggo, Dom, Billy, sie alle würden in wenigen Wochen verschwinden und unsere Freundschaften würden wahrscheinlich immer weiter im Alltag versinken. Und irgendwann würden wir feststellen, dass wir nichts mehr über den anderen wussten. Dann musste ich an Maria denken. Was würde aus ihr und Elijah werden?

 

Er wohnte in L.A., sie hier. Das konnte nicht gut gehen. Machte sie sich auch schon Gedanken über diesen Tag? Über den Tag, an dem wir all unsere Freunde am Flughafen von Wellington würden verabschieden müssen? Natürlich würden wir sie auf den Premieren wieder sehen, auf die wir auch eingeladen waren. Aber die erste Premiere würde erst im Dezember 2001 sein, in einem Jahr …

 

Was sollte ich das Jahr über ohne meine Freunde tun? Außerdem würde Pete mich wahrscheinlich nicht mehr brauchen. Es gab keine Schauspieler mehr, die neue Skripte oder eine Souffleuse brauchten. Und als Babysitterin würde ich auch nicht mehr gebraucht werden.

 

„Du wirst immer ein wichtiger Teil unserer Lebens bleiben, Teti.“ Anscheinend hatte Orlando mich doch bemerkt und hatte mich in der Zeit, in der ich meinen Gedanken nachgehangen hatte, beobachtet. Hatte ich vielleicht sogar laut gedacht, wenn er zu wissen schien, was ich gedacht hatte? „Du hast so viel für Seth und mich getan in der Zeit, die wir uns kennen. Ich werde das alles niemals wieder gut machen können“, sagte er und schlang seine Arme um mich. Es war ein schönes Gefühl und ich erwiderte seine Umarmung.

 

„Neben Seth bist du der wichtigste Mensch in meinem Leben. Nichts in der Welt würde mich dich je vergessen lassen“, flüsterte er mir in die Ohren und meine Augen füllten sich mit Tränen. Auch er war für mich der wichtigste Mensch geworden. Die beiden gehörten für mich zur Familie und es war schön zu hören, dass er genauso dachte. Vielleicht würde es ja doch nicht so werden wie ich es befürchtete. Ich musste wahrscheinlich alles einfach auf mich zukommen lassen.

 

„Wirst du morgen dabei sein?“, fragte er dann und sah mich gespannt an.

 

„Bei der Pressekonferenz? Ich denke eher nicht. Ich werde wohl eher auf den kleinen Racker hier aufpassen, während sich sein Daddy der Welt zeigt“, sagte ich und beugte mich hinunter um in Seth‘ Bettchen zu blicken.

 

 

„Er wird zu einem starken Mann heranwachsen. Durch dein und durch mein Blut wurde er von den Göttern erschaffen und sie werden über ihn wachen.“

 

 

Ich sah Orlando verwirrt an. Was hatte er da gerade gesagt? Doch als ich ihn mir genauer ansah, sah er nicht so aus, als habe er gerade gesprochen. Er blickte nur ruhig auf seinen Sohn. Ich drehte ihm also wieder den Rücken zu um weiter in das Bettchen zu sehen.

 

 

„Glaub mir, ich werde dafür sorgen, dass unser Sohn besser beschützt wird als alle anderen.“

 

 

Wieder drehte ich mich um, aber noch in dem Moment, bevor der Satz beendet gewesen war. Orlando sprach nicht, er hatte nur seine Hand neben meiner Hüfte entlang geführt, um dem kleinen Seth liebevoll die Wange zu streicheln. Sein Mund hatte sich allerdings nicht bewegt.

 

 

„Was bedrückt Euch?“ Ich stand verwirrt vor ihm und hielt mich an den Stangen der Krippe fest, die Ramses für unseren Sohn hatte bauen lassen.

 

„Nichts, das Ihr heilen könntet“, sagte ich etwas niedergeschlagen, denn so war es. Immer und immer wieder brachten die Götter diese Visionen zu mir, die mich aus meinem Umfeld und sogar aus meiner Zeit zu reißen schienen. Seit der Geburt unseres Sohnes waren sie immer häufiger geworden und sie hatten mich nicht nur des nachts verfolgt.

 

„Ich fragte nicht danach, ob es zu heilen ist“, sagte er und seine Augen sahen mich gütig an. Dann riss es mich wieder fort.

 

 

„Kennst du das, wenn dir Sachen im Kopf herumspuken, die du noch nie zuvor erlebt hast? Szenen, einzelne Bilder, oder ganze Unterhaltungen?“ Ich war wieder im Hier und Jetzt und starrte Orlando immer noch an. Auch er sah mich an und ich merkte, dass das einzige, was sich während dieses Tagtraumes nicht geändert hatte, Orlandos Augen gewesen waren. Sie waren immer dieselben. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie immer dieselben gewesen waren. Es waren immer Orlandos Augen gewesen, in all meinen Träumen. Auch in denen, die ich hatte, bevor ich ihn kennen gelernt hatte. Was das jedoch wieder zu bedeuten hatte, wusste ich nicht.

 

„Ich denke du solltest aufhören zu Rauchen … was auch immer du rauchst“, sagte er und begann zu lachen. Er wusste, dass ich Zigaretten nicht mochte. Schon oft hatte ich ihm, Elijah oder den anderen Schauspielern, die meisten von ihnen rauchten, die Glimmstängel aus den Mündern gerissen. Natürlich hatte ich es immer auf eine lustige Art und Weise getan, aber sie hatten die Nachricht immer wieder verstanden. Nach einigen Malen schmissen sie ihre Zigaretten förmlich weg, wenn ich in die Nähe kam, oder versteckten sie etwas weiter entfernt, um sie später weiterrauchen zu können. Ich verurteilte sie nicht dafür, nur wenn ich dabei war hatte ich ihnen „beigebracht“, nicht zu rauchen. Und jetzt, wo Seth oft in der Nähe war, gingen sowieso alle zum Rauchen woanders hin.

 

„Aber Spaß beiseite. Ja, ich kenne das. Auch mir spuken manchmal Sachen im Kopf herum, die ich mir nicht erklären kann. Aber es sind eher Emotionen und Reaktionen, die nicht zur tatsächlichen Begebenheit passen.“ Er trat einen Schritt näher an mich heran und sah mir tief in die Augen.

 

Ich hielt einen Moment die Luft an. Diese Momente kannte ich immer nur aus irgendwelchen billigen Schnulzen. Im wahren Leben passierte so etwas nicht, zumindest hatte ich mir das immer einreden wollen. Ich merkte förmlich wie sich die Luft zwischen uns so weit komprimierte, dass sie immer wärmer wurde. Ich konnte seinen Atem spüren und merkte, dass mein Körper immer näher an seinen schwankte, auch wenn ich das eigentlich nicht steuerte. Immer wieder blickte ich beinahe nervös von seinen Lippen zu seinen Augen und wieder zurück. Doch dann wurde mir beinahe schwindelig von dem Gehüpfe meiner Augen und ich schloss sie.

 

„Orlando, du wirst … gebraucht. Es tut mir leid! Oh Shit, ist das peinlich.“ Es war Henry, Viggos Sohn. An den Wochenenden war er häufig am Set, um seinem Vater zuzusehen und manchmal half er auch ein bisschen der Crew. In diesem Falle hatte ihn wohl jemand geschickt, um Orlando zu holen. Und wieder so ein Moment, der eigentlich nur in Filmen vorkam. Ich kniff meine Augen noch fester zu. Ich wollte Orlando jetzt nicht in die Augen sehen, wollte nicht sehen, ob er die Szene, die Henry gerade unterbrochen hatte, bereute oder nicht. Als er mich kurz fragte, ob ich hier bei Seth bleiben würde, nickte ich nur. Dann spürte ich wie seine Lippen kurz meine Wangen berührten und ich zuckte förmlich zusammen. Ich hörte noch wie Orlando amüsiert etwas Luft ausstieß und dann den Trailer verließ. Erst, als sich die Tür wieder geschlossen, hatte öffnete ich meine Augen und ließ mich auf das Sofa sinken.

 

Mein Gott, war das Peinlich gewesen. Was war da eben nur passiert? Empfand Orlando doch etwas für mich? Mehr als Freundschaft oder waren das diese seltsamen Emotionsschübe, von denen er gesprochen hatte und es galt gar nicht mir? Aber was hatte es mit meinen Träumen auf sich? Warum waren es immer Orlandos Augen, die ich sah? Dann klopfte auf einmal an die Tür zum Trailer und Viggo öffnete sie. Wahrscheinlich hatte Henry ihm erzählt, was er unterbrochen hatte und Viggo wollte nun mit mir darüber reden.

 

„Na, geht’s dem Kleinen gut?“, fragte er, wahrscheinlich um nicht direkt mir der Tür ins Haus zu fallen.

 

„Ja, er hat vorhin noch gegessen und jetzt schläft er seit ungefähr einer Stunde. Wie ich ihn kenne wird er aber in spätestens einer halben Stunde wieder aufwachen. Mit jedem Monat, den er älter wird, schläft er weniger.“

 

„Das war bei Henry auch so“, sagte Viggo und lächelte. Er liebte seinen Sohn, das wusste ich, und dafür schätzte ich ihn. „Aber warte erst einmal ab, bis der Kleine anfängt zu Krabbeln. Dann habt ihr keine ruhige Minute mehr.“ Ich sah betroffen auf den Boden.

 

„Ich werde davon nichts mehr mitbekommen, Viggo“, sagte ich und merkte, wie mir dieser Gedanke die Kehle zuschnürte. Auch Viggo schien dies zu bemerken und legte eine Hand auf meine Schulter, kniete sich vor mich und sah mir in die Augen. „Orlando wird nach London zurückgehen in einem Monat und dann? Ich bleibe hier in Neuseeland. Ich werde Seth wahrscheinlich bis zur Premiere nicht mehr wieder sehen.“ Ich merkte wie Tränen sich den Weg aus meinen Augen bahnten, auch wenn ich versuchte, sie zurück zu halten. Mein Hals begann zu schmerzen und mein Kopf wurde wahrscheinlich unheimlich rot.

 

„Du wirst alles mitbekommen, Teti. Orlando ist dir unheimlich dankbar für das, was du für ihn getan hast. Er würde dich niemals aus Seth‘ Leben ausschließen, und auch nicht aus seinem.“ Ich sah Viggo an und er wischte mir eine Träne von der Wange, die es trotz meinen Anstrengungen aus meinen Augen geschafft hatte. „Es ist eine Strecke zwischen London und Wellington, aber es ist kein Hindernis. Wir leben im 21. Jahrhundert, nicht im Mittelalter.“ Bei diesen Worten sah ich ihn skeptisch an. Es war schon ironisch, dass er davon redete, dass wir nicht im Mittelalter lebten, er aber mit Kettenhemd, verschlissener Lederweste und Schwert vor mir kniete. Ich musste leicht lachen. Vor mir saß Aragorn und wollte mir etwas über die modernen Möglichkeiten erklären, in Kontakt zu bleiben.

 

„Viggo. Darf ich dich etwas fragen?“, fragte ich nach einer Weile, in der wir beide auf Seth gesehen hatten. Der Kleine war kurz vor dem Aufwachen und bewegte sich viel. Viggo nickte und wandte sich wieder mir zu. „Glaubst du an Wiedergeburten, an Reinkarnationen?“ Es war mir schon öfter durch den Kopf gegangen, dieses Wort. Ich hatte einmal etwas darüber gelesen, dass es Menschen gab, die felsenfest davon überzeugt waren, bereits einmal gelebt zu haben. Einige von ihnen behaupteten Erinnerungen zu haben, die nicht die ihren waren, und konnten Orte beschreiben, an denen sie noch nie gewesen waren. Vielleicht hatte auch ich bereits einmal gelebt.

 

„Ja. Ich glaube fest daran. Es gibt in fast jeder Religion eine Version der Wiedergeburt und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass nach dem Tod nichts mehr sein soll.“

 

„Was würdest du sagen, wenn ich behaupten würde eine solche wiedergeborene Seele zu sein?“, fragte ich und er sah mich ernst an.

 

„Ich würde dir sagen, dass dir ein großes Geschenk zuteil wurde, denn wahrscheinlich gibt es nur wenige, die so etwas über sich wissen. Aber wie kommst du darauf?“ Und dann erzählte ich zum ersten Mal jemandem von allem, was mir so in meinem Kopf herumspukte. Von meinen Träumen, von den Tagträumen, von den Emotionen und von dem Wissen, das ich hatte. Eigentlich fand ich es anmaßend anzunehmen, ich sei die Wiedergeburt einer Königin, aber Viggo war so fasziniert von dem Ganzen, dass er mir riet, einen Hypnotiseur aufzusuchen, der sich mit Wiedergeburten beschäftigte.

 

„Aber trotz allem, Teti, du solltest mit Orlando sprechen. Gefühle zu unterdrücken hilft niemandem weiter“, sagte er dann als er den Trailer wieder verließ. Ich hatte gewusst, dass Viggo um meine Gefühle für Orlando wusste. Viggo war so ein feinfühliger Mensch, dass es ihm nicht entgangen sein konnte. Wahrscheinlich hatte er auch schon mit Orlando darüber gesprochen. Doch wenn das der Fall war, was hatte Orlandos Verhalten mir gegenüber dann zu bedeuten? Viggo hatte Recht, ich musste mit Orlando sprechen. Aber nicht heute und auch nicht morgen. Ich würde mit ihm sprechen, wenn ich die Zeit für richtig hielt. Bis dahin würde ich versuchen meine Gefühle weiterhin nicht zu beachten.

 

Am nächsten Tag war dann tatsächlich die große Pressekonferenz mitten im halb fertig gebauten Set von Minas Tirith. Alle Hauptakteure dieses ganzen Wanderzirkuses, als einen solchen sahen wir uns nämlich mittlerweile, nahmen daran Teil und so war es unmöglich an diesem Tag auch nur daran zu denken, irgendetwas aufzunehmen. Ich fühlte mich unwohl in solch einer Masse mir unbekannter Menschen. Aor allem weil sie mit ihren gierigen Videokameras alles aufnahmen, was ihnen vor die Linse kam.

 

„Der Kleine ist aber niedlich. Spielt er auch eine Rolle im Film?“, fragte eine Reporterin und wollte Seth‘ kleine Händchen berühren. Etwas verwirrt ging ich einen Schritt zurück, die Kamera ihres Kameramannes war auf mich gerichtet.

 

„Nein. Er ist noch viel zu klein dafür“, sagte ich dann und hoffte, das würde der Reporterin reichen, tat es aber nicht. Ich sah, dass Orlando nicht wirklich weit weg stand und sich selbst gerade von einem Trupp Reporter umstellt sah. Als ich ihn direkt und etwas hilflos ansah, formte er mit seinen Lippen ein „Dein Sohn.“ Das sollte ich wahrscheinlich sagen, wenn mich jemand fragte, wessen Kind der Kleine war. Sicherlich wollte Orlando nicht, dass sein gerade einmal 5 Monate alter Sohn schon in das Rampenlicht gedrängt wurde und ich konnte es verstehen.

 

„Und was machen Sie hier am Set?“, fragte sie mich dann etwas aufdringlich. Ich trat wieder einen Schritt zurück und die Reporterin folgte mir.

 

„Ich bin ein einfaches Crewmitglied, die Souffleuse. Und jetzt lassen Sie mich bitte gehen, Ich muss meinen Sohn wickeln“, antwortete ich etwas energischer als Seth in dem ganzen Gewusel auch noch anfing zu weinen. Ich warf Orlando noch einen letzten Blick zu und er nickte dankbar.

 

Zu meinem großen Glück hatte mein Auftritt der Reporterin anscheinend nicht gefallen und als ich mir am Abend einige Ausschnitte der Konferenz zu Hause in meinem Zimmer ansah, war ich froh, dass weder Seth noch ich irgendwo zu sehen waren.

 

 

 

 

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