top of page

Kapitel 1

 

John Proctor

 

 

 

Es war ein gewöhnlicher Tag in London. Die Sonne war schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen worden und das eintönige Grau des Himmels meinte auch noch zu dem tristen Bild Regen hinzufügen zu müssen. Die Straßen waren schon so getränkt von dem kühlen, ungemütlichen Nass, dass die Fußgänger am Straßenrand den regelrechten Fluten ausweichen mussten, die sich bildeten, wann immer ein Auto neben ihnen herfuhr.

Doch selbst bei diesem trostlosen Wetter waren, wie eigentlich immer in London, Unmengen an Menschen unterwegs. Ob es nun Touristen waren, die sich die einzelnen Sehenswürdigkeiten ansehen wollten, oder ob es Londoner waren, die zwischen ihrem Job und ihrem Wohnort hin und her pendelten.

Der Leicester Square war jedoch ein Treffpunkt für alle gleichermaßen. Die Einheimischen trafen sich hier, um sich, nach einem harten und langen Arbeitstag, etwas zu amüsieren, sei es nun im Theater, im Kino, in einer Bar oder in der Spielhalle. Die Touristen kamen meist her, um eines der vielen Restaurants zu besuchen.

Vor einem gut gefüllten italienischen Restaurant mit dem Namen „Bella Italia“ stand eine ziemlich nervös wirkende Frau. Immer wieder verlagerte sie ihr Gewicht von einer Seite auf die nächste und sah mindestens alle 5 Sekunden auf ihr Handy, obwohl ihr es sicherlich so vorkam, als sehe sie in viel längeren Intervallen darauf.

Es war Anfang September und mittlerweile doch etwas kälter draußen geworden, vor allem bei diesem sowieso schon ungemütlichen Wetter. Die Frau, sie war Ende 30, trug eine dunkelrote Filzjacke, die sie vor dem größten Teil der Kälte schützte, und der große Schirm bewahrte ihre eher brünette Haarpracht davor vollkommen aus der Form zu fallen. An normalen Tage war sie eigentlich immer ziemlich stolz auf ihre immer gut sitzende Frisur, aber bei diesem Wetter neigten ihre Haare leicht dazu sich in ein regelrechtes Vogelnest zu verwandeln, und das konnte sie heute nun wirklich am allerwenigsten gebrauchen.

Das war mit ein Grund, warum sie ihre Freundin in diesem Moment leicht verfluchte und wirklich inständig hoffte, dass sie jeden Moment um die Ecke kommen würde.

„Es tut mir furchtbar leid!“ Sie konnte die Worte durch den Wind und die widerhallenden Geräusche der rennenden Pumps kaum hören, aber sie konnte sich denken, was ihre Freundin sagte: Die Metro war bis oben hin gefüllt gewesen.

„Deswegen planen wir Londoner immer ein, einige Waagen zu verpassen, bis wir an unser Ziel kommen“, meinte die Brünette immer noch etwas missmutig zu ihrer Freundin, die ihren blonden Schopf unter einer gehäkelten Mütze versteckt hatte, und ging in das Restaurant. Ihre blonde Freundin ging ihr augenverdrehend hinterher. Sie kannte sie nun schon lange genug, um zu wissen, dass es jetzt besser war, nicht mit ihr zu argumentieren.

In der Tat kannten sich die beiden Frauen schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit, in der beiden noch in Deutschland gelebt hatten. Erst nach dem Abitur, das beide mit mittelmäßigem Erfolg abgeschlossen hatten, hatten sich ihre Wege, zumindest was die Auswahl des Wohnortes anging, getrennt.

„Bianca! Come stai!?!“, begrüßte ein älterer, ziemlich fröhlich wirkender Italiener die Wahlengländerin, während er ihr aus dem roten Mantel half.

„Great, thanks, Alessio“, antwortete sie nun wieder etwas freundlicher. Die Wärme des Restaurants und das freundliche Lächeln des Italieners hatte sie direkt etwas beruhigt. Außerdem fühlte sie sich in diesem Restaurant beinahe heimisch. Sie war eigentlich jeden Dienstag nach der Arbeit mit ihren Kollegen hier essen und kannte daher die meisten der Kellner beim Vornamen. „Alessio, that is Jenny, an old friend from Germany. She’s come to visit London for a few days“, stellte sie dann auch ihre alte Schulfreundin vor.

„Du kommst hier öfter hin, was?“, fragte Jenny ihre Freundin dann lächelnd, nachdem auch sie herzliche von dem Italiener begrüßt wurde und von ihm sogar einige nützliche Tipps bekommen hatte, was sie unbedingt sehen müsse. Bianca nickte nur lächelnd und erzählte ihrer Freundin, dass es hier durchaus normal war, wenn die Kollegen nach der Arbeit noch zusammen etwas unternahmen. Für Jenny, die in einem eher anonymen Großunternehmen arbeitete, in dem man einfach nur eine Nummer war, war diese Vorstellung beinahe unmöglich. Natürlich, auch sie verstand sich mit dem einen oder anderen Kollegen, aber es war eher selten, dass sie mit denen auch noch nach der Arbeit Kontakt hatte. Andererseits war Jenny immer schon etwas zurückhaltender anderen Leuten gegenüber gewesen.

„Und was machen deine Männer heute Abend?“ Die Frage war durchaus berechtigt, immerhin war Jenny zusammen mit ihrem Mann und ihrem 13-jährigen Sohn nach London gekommen, und Bianca wusste genau, dass es im Vorfeld dieses Abends einige Diskussionen in der Familie gegeben hatten. Aber am Ende hatte sich Jenny durchsetzen können und hatte es geschafft, zumindest einen Abend mit ihrer alten Schulfreundin alleine verbringen zu können.

„Die beiden dürften jetzt auch gerade essen, drüben im Angus Steak House, und da Leon sicherlich das Gebäude mit den riesigen M&M’s nicht übersehen hat, werden sie wohl zumindest 50 Prozent des Abends dort verbringen. Und wir werden eine Menge an Übergewicht bezahlen müssen, wenn wir wieder nach Hause fliegen“, lachte Jenny. Sie kannte ihren Mann und ihren Sohn gut genug, um zu wissen, dass die beiden sich in dem mehrstöckigen Geschäft wahrscheinlich mit mehreren Jahresrationen an M&M’s und allerhand lustiger Merchandise-Objekte eindecken würden.

Auch Bianca lachte. Sie hatte ihren Patensohn zwar nun schon seit 3 Jahren nicht mehr gesehen, aber sie konnte sich noch ziemlich lebhaft an die riesige M&M-Torte erinnern, die die Großmutter des Jungen zu seinem 10. Geburtstag gebacken hatte. Keine hatte sich wirklich getraut diese Torte anzuschneiden, denn sie war ein Kunstwerk für sich gewesen. Nur Leon hatte es nicht abwarten können die zweistöckige Torte zu verspeisen.

„A little something“, unterbrach ein weiterer, etwas jüngerer Kellner das Gespräch der beiden Frauen, und stellte eine Vorspeise auf den Tisch, die beinahe an eine Pizza erinnerte.

„Garlic bread, thanks, Gino! But tell Alessio that’s the last time, okay?“, bat Bianca mit einem weniger strengen Blick als ihre Stimme es vielleicht annehmen ließ. Dann erklärte sie ihrer Freundin, dass Alessio dazu neigte, seinen Stammgästen immer eine Kleinigkeit aufs Haus zu geben. Meistens war es nur ein Schnaps oder ähnliches, bei Bianca und ihren Kollegen war es jedoch soweit ausgeartet, dass sie beinahe nur noch das Hauptgericht und die Getränke bezahlen mussten, alles andere bekamen sie gratis. Bianca kannte Alessio jedoch mittlerweile lange genug, um auch zu wissen, dass es finanziell nicht gerade gut um das Restaurant stand.

„Also, du hast gesagt, ich soll mich schick anziehen. Wieso?“ , stellte Jenny nun die Frage, die sie sich gestellt hatte, seitdem Bianca sie vor ihrem Abflug angerufen und sie informiert hatte, dass sie sich ein schickes Outfit anziehen sollte.

„Das ist nicht dein Ernst“, rief Jenny beinahe entzück aus, als sie nur 2 Stunden später aus der Metro ausstiegen und Bianca ihr einen Flyer in die Hand drückte. „Warum erfahre ich erst JETZT, dass das hier gespielt wird?“ Bianca lachte leicht. Sie hatte gehofft, dass ihre Freundin so reagieren würde.

„Ich erinnere mich, wie du das Stück damals verschlungen hast“, bemerkte sie daher breit grinsend. Sie wusste zwar nicht wieso, aber die Hexenprozesse von Salem, und vor allem das damit Verbundene Drama von Arthur Miller, hatten Jenny damals direkt in ihren Bann gezogen. Sie hatte sich damals so sehr damit befasst, dass sie sogar eine Facharbeit darüber geschrieben hatte.

„Aber wie ich sehe, bist du dabei nicht ganz uneigennützig gewesen, was?“, zwinkerte Jenny ihrer Freundin zu und stieß ihr leicht den Ellbogen in die Seite. Jenny kannte ihre Freundin schon lange genug, um ihren Männergeschmack genau zu kennen. Der bärtige Mann auf dem Flyer blickte zwar auf den Boden, aber der Bart und die Frisur alleine reichten eigentlich schon, um zu sagen, dass er vollkommen in Biancas Beuteschema passte. Jenny war den Namen auch gleich aufgefallen, denn dank ihres Sohnes, der ein eingefleischter Fan von jeglicher Fantasy-Geschichte im Kino war, wusste sie, dass es sich hierbei um niemand anderen als Richard Armitage, den Schauspieler des Thorin Eichenschilds, handelte. Als sie damals mit ihrem Sohn in den ersten Teil des Hobbits gegangen war, hatte sie bei dem Anblick des Zwergenkönigs direkt an ihre Freundin denken müssen, die, wegen ihrer vollkommenen Abneigung gegen Fantasy, diesen Mann wahrscheinlich nie sehen würde.

Anscheinend war nun jedoch das genaue Gegenteil der Fall.

„Hey“, Bianca erhob nur abwehrend ihre Arme, „bisher habe ich nur zwei Bilder von diesem Mann gesehen und da hat er entweder auf den Boden gestarrt, oder er hatte ein ziemlich dreckiges Gesicht.“ Jenny sah ihre Freundin zweifelnd an, als würde das der Sache irgendeinen Abbruch tun.

„Außerdem spielt die Schwester einer Kollegin darin mit, und ich habe versprochen, mir das Stück einmal anzusehen“, verteidigte Bianca sich unnötigerweise weiter. Jenny hatte sie schon längst durchschaut. „Sie hat übrigens auch die Karten für uns organisiert… erste Reihe.“

Jenny wusste zwar nicht, wie es in einem Theater war, aber in einem Kino war es eher von Nachteil in der ersten Reihe zu sitzen. Standen die Schauspieler nicht auch erhöht auf einer Bühne und man sah vielleicht nicht alles? Aber beschweren wollte sie sich nicht, immerhin hatte sie für die Karten nichts bezahlen müssen, und einem geschenkten Gaul schaute mal bekanntlich nicht ins Maul.

„Preformed in-the-round?“, fragte sie nach, als sie den Flyer genauer studiert und nachgesehen hatte, ob auch alle Charaktere vorkamen. Bianca tat auf diese Frage eher geheimnisvoll und zuckte nur grinsend mit den Schultern. Anscheinend hatte ihre Freundin tatsächlich noch nie etwas vom „Old Vic“ gehört, wie das Theater genannt wurde.

„Was ist eigentlich aus Paul geworden?“, fragte Jenny dann, nachdem den beiden Frauen ihre Jacken abgenommen worden ware und sie jeweils ein Glas Sekt bekommen hatten. Bianca machte nur eine abfällige Handbewegung und verdrehte kurz ihre Augen.

„Ein vollkommener Reinfall.“ Eigentlich hatte sie gehofft, ihre Freundin würde es nach diesem Kommentar einfach seinlassen, denn sie hatte wirklich keine Lust, diese Geschichte noch einmal durchzukauen, aber sie wusste, dass ihr Wunsch in dieser Hinsicht nicht berücksichtigt werden würde.

„Aber ich dachte, er war perfekt.“

„Das war er auch, am Anfang. Dann hat er angefangen zu klammern“, erklärte Bianca und für Jenny war alles klar. Wenn die Brünette etwas überhaupt nicht leiden konnte, dann war es jemand, der ihr nicht den für sie nötigen Freiraum gab, ob Freunde oder Partner. Schon immer hatte Bianca das Gefühl haben müssen, vollkommen ungebunden zu sein. Und dieser Eigenschaft schrieb Jenny es auch zu, dass Bianca mit ihren 37 Jahren noch immer keinen Mann hatte. Wann immer ein Mann ihr zu aufdringlich wurde, hatte sie bisher die Reißleine gezogen, doch sie hatte wirklich gehofft, dass Paul das würde ändern können.

Die beiden hatten damals auf dem 10. Geburtstag ihres Sohnes wirklich glücklich miteinander ausgesehen. Außerdem wusste sie, dass ihre Freundin sich, trotz ihrer Ängste, eine eigene Familie wünschte. Das war nur durch einen Wandel ihrerseits möglich, aber das war eine Sache, die Bianca selbst sehen musste.

„The Play will start shortly, please find to your seats“, informierte eine freundliche Kellnerin alle Gäste und die beiden Frauen begaben sich mit ihren Karten zum Eingang. Jenny konnte ihren Augen kaum trauen als sie sah, wie dieses Theater eingerichtet war, und verstand nun was „in-the-round“ bedeutete, denn anscheinend fand das Stück mitten im Publikum statt.

„Das ist ja Wahnsinn“, brachte Jenny noch gerade heraus, als sie sich auf ihren Platz genau in der ersten Reihe, also sozusagen auf der Bühne, setzte. Bianca grinste nur. Sie hatte schon oft vom Old Vic und dieser Besonderheit gehört und auch sie musste zugeben, dass es sicherlich eine einmalige Erfahrung werden würde.

Als dann alle endlich Platz genommen hatten und das Licht ausging und ein leichter Nebel in den Raum geblasen wurde, stieg bei beiden Frauen eine leichte Gänsehaut auf. Es war so dunkel und nebelig, dass keine der beiden wirklich wusste, was vor sich ging. Sie merkten nur, wie immer mehr Leute an ihnen vorbeihuschten.

Ungeduldig und manchmal auch etwas angespannt beobachteten sie aus nächster Nähe, wie die einzelnen Schauspieler sich vollkommen in ihrer Rolle verloren. Wie sie immer wieder Wutausbrüchen und Ängsten gegenübertraten und damit den riesengroßen Saal komplett für sich beanspruchten. John Proctor war, und das musste selbst Jenny zugeben, die nicht wirklich auf diesen Typ Mann stand, imposant, und das war auch so gewollt, immerhin war er eine der Hauptfiguren dieses Dramas.

Bianca war jedoch hin und weg. Schon als der mindestens 1,80m große Mann mit seinem langen, dunklen Filzmantel an ihr vorbeigegangen war, hatte sie ihn aufmerksamer beobachtet als all die anderen. Sein raumgreifender Bariton war genau das, was sie bei Männern mochte. Und noch bevor er sich genau vor den beiden sein Hemd auszog, sich vor eine Wasserschale zu Biancas Füßen kniete und sich darin wusch, hatte er einen wahrscheinlich bleibenden Eindruck bei Bianca hinterlassen, den sie zwar eindeutig in der Pause ihrer Freundin gegenüber bestreiten würde, aber das sicherlich ohne Erfolg.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er hat dich sogar angesehen“, bemerkte Jenny in der Pause kichernd.

„Es war so dunkel, wahrscheinlich hat er niemanden aus dem Publikum gesehen.“ Auf so eine Diskussion aus Schulzeiten wollte Bianca sich erst gar nicht einlassen. Und dennoch, auch sie hatte das ein oder andere Mal das Gefühl gehabt, seine Blicke auf sich zu spüren. Besonders, und eigentlich hatte sie gedacht, sich das eingebildet zu haben, während der Szene, in der er mit ziemlich nassem Oberkörper genau vor ihr gesessen hatte.

„Ich kann ihm ja gleich ein Beinchen stellen, dann landet er auf deinem Schoß“, zwinkerte Jenny ihrer Freundin süffisant zu und alles, was Bianca machen konnte, war nur genervt die Augen zu verdrehen. In dieser Hinsicht hatte Jenny sich in den Jahren, die sie nun schon aus der Schule waren, nicht geändert. Wenn es darum ging sich in das Liebesleben ihrer Freundin einzumischen war sie immer noch ganz vorne mit dabei, selbst wenn sie in allen anderen Sachen eher weit ab vom Schuss war.

„Du wirst nichts dergleichen machen!“, zischte Bianca leise und doch ziemlich peinlich berührt. Sie wusste selbst, dass so etwas in dieser Vorstellung leicht passieren konnte. Immerhin standen die Stühle der ersten Reihen auf demselben Boden, auf dem die Schauspieler ihren Auftritt hinlegten. Aber sicherlich wollte Bianca nicht, dass so etwas mit Absicht passierte, und schon gar nicht, dass sie damit in die Mitte der Aufmerksamkeit geschoben wurde.

Verteidigend hob Jenny daraufhin ihre Hände und versprach ihrer Freundin, dass sie tatsächlich nichts tun würde, um eine Tuchfühlung zwischen ihrer Freundin und dem Schauspieler zu erzwingen. Irgendetwas, vielleicht war es ihre weibliche Intuition, sagte ihr sowieso, dass ihre Freundin, auch wenn sie es nicht wollte, diesem Schauspieler bald näherkommen würde, als ihr lieb war.

 

bottom of page