top of page

Kapitel 4

 

Puzzle with a Piece missing

 

 

 

 

Der Tag war bereits weit vorangeschritten, als die junge Hobbitdame sich von ihrem bisherigen Begleiter verabschiedete, um Bree mit ihrem Kindheitsfreund zu verlassen. Es war nicht einfach gewesen, den neugierigen und vielleicht etwas zu abenteuerlustigen Hobbit davon zu überzeugen, dass es besser war, wenn er, nach Erledigung seiner Geschäfte, wieder ins Auenland zurückkehrte. Sie war sich sicher, dass die Reise nach Bruchtal keine angenehme sein würde und sie wollte nicht, dass ihrem jungen Verwandten noch etwas passierte. Nicht, dass sie tatsächlich mit etwas Schlimmen gerechnet hätte, aber wenn die Geschichte ihrer Mutter sie eines gelehrt hatte, dann, dass man sich nie zu sicher fühlen konnte, wenn man auf Reisen ging.

„Ich werde ihr sagen müssen, wohin du gegangen bist und mit wem“, hatte Saradas eingewandt, um Eleodora doch noch zu überzeugen.

„Vielleicht ist es auch besser so. Dann gibt sie es vielleicht auf, mir zu folgen. Sie wird Frodo nicht allzu lange alleine lassen wollen, nehme ich an.“ Sie kannte ihre Mutter nur zu gut und sie kannte ihren Cousin. Nur einen Tag alleine und Beutelsend würde einem Schlachtfeld gleichen, das es würdig war, in die Geschichte einzugehen, und das würde Billiana Beutlin niemals zulassen. „Sag ihr, ich werde nicht nach Hause kommen, bis ich die Wahrheit über meinen Vater herausgefunden habe. Sag ihr, dass Estel bei mir ist, das wird sie beruhigen.“

Allein die Tatsache, dass sie ihre Mutter beruhigen wollte, zeigte, dass sich Eleodoras Zorn gegen sie bereits gelegt hatte. Natürlich, sie hatte immer noch gelogen und ihr eine Menge verschwiegen, aber vielleicht hatte sie ja einen guten Grund dafür gehabt. Aber die Wahrheit wollte Eleodora dennoch erfahren und sie wollte ihrer Mutter nicht den Gefallen tun, ihr schlechtes Gewissen dadurch zu erleichtern, dass sie es ihrer Tochter nun doch erzählen konnte.

Zum Abschied an den Osttoren der Stadt Bree umarmten sich die beiden Hobbits noch einmal und Saradas erinnerte sie daran, dass sie sich ja nicht einfallen lassen sollte, sich mit dieser Reise vor ihrem 33. Geburtstag zu drücken, immerhin habe er schon ein Geschenk für sie besorgt.

Was Eleodora jedoch entging, war der verwunderte Blick, den Estel ihr zuwarf, während sie mit dem Rücken zu ihm stand. Er war sich ziemlich sicher, dass Eleodoras ihren 33. Geburtstag schon lange hinter sich gelassen hatte, aber den Grund, warum sie und Billiana in Hobbingen das wahre alter Eleodoras verschwiegen hatten, war ihm ein Rätsel, das er gedachte zu lösen, wenn die beiden unter sich waren.

Bis er dieses Thema anschneiden konnte, vergingen jedoch noch etliche Stunden. Der Größenunterschied, der die beiden nun, da sie älter geworden waren, voneinander trennte, hatte zur Folge, dass Eleodora angestrengt versuchte, mit Estel Schritt zu halten, während sie ihm immer wieder versicherte, er müsse wegen ihr nicht langsamer gehen als sonst. Daher war sie den ganzen Weg ziemlich aus der Puste und alles andere als in der Lage, Fragen zu beantworten.

Erst als die beiden kurz nach Einbruch der Nacht einen Platz zur Rast fanden, schaffte Eleodoras Atem es, sich etwas zu beruhigen, und das warme Feuer, das Estel entfacht hatte, sorgte dafür, dass die ziemlich erschöpfte Hobbitdame sich entspannen konnte.

„Warum sprach dein Verwandter von deinem 33. Geburtstag?“, fragte Estel dann, während die beiden sich ein gebratenes Kaninchen teilten. Eleodora war verwundert über die Frage ihres alten Freundes. Immerhin kannte er sie nun schon seit Kindertagen und er musste doch genauso gut wissen wie sie, wie lange das nun her war. Wusste er vielleicht nicht mehr, wann ihr Geburtstag war?

„Weil ich ihn in wenigen Wochen erreichen werde“, antwortete sie, als wäre es das Normalste auf der Welt. 

„Warum lasst ihr das Auenland so etwas glauben? Ich meine, warum sollten sie sich bei dir wundern? Immerhin ist deine Mutter seit eurer Rückkehr keinen Tag gealtert und hat schon beinahe die 100 erreicht.“

Nun war es Eleodora, die verwundert aussah. Sie verstand wirklich nicht, was Estel damit meinte. Warum sollte sie das Auenland irgendetwas glauben lassen? Sie würde bald 33 Jahre alt werden und sie erinnerte sich an jedes einzelne davon seit ihrem 13. Geburtstag. „Estel, seit wir Bruchtal verlassen haben, sind 20 Jahre vergangen, nicht mehr. Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Es geht mir nicht um die Zeit, die ihr in Hobbingen verbracht habt, das waren gewiss 20 Jahre. Aber sicherlich warst du schon weit über 13, als du uns verlassen hast.“

„Nun sei nicht albern!“ Langsam wurden ihr die Behauptungen ihres Freundes etwas zu seltsam.

„Ich war zehn als du geboren wurdest und ich habe vor kurzen mein 63. Lebensjahr vollendet. Du kannst also keineswegs erst deinen 33. Geburtstag feiern.“ Er wollte sie noch amüsiert bitten, ihn nicht zum Narren zu halten, aber da fiel ihm das entsetzte Gesicht des Hobbits auf und er hielt inne. Er sah, wie sich anscheinend tausende Räder in ihrem Kopf gleichzeitig drehten, wie sie versuchte, sich zu erinnern, zu rechnen und zu verstehen.

„Das bedeutet, ich wäre bereits… 53. Doch das kann unmöglich sein. Saradas ist gerade einmal 20 Jahre alt und ich sehe nicht viel älter aus als er. Ich dachte immer, ich hätte die Eigenschaft, jünger auszusehen, von meiner Mutter geerbt, aber doch nicht beinahe 30 Jahre. Wie kann ich bereits 53 sein, wenn ich mich doch nur an 20 Jahre tatsächlich erinnere?“ Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus, ohne dass sie wirklich erwartete, dass Estel sie ihr beantworten konnte. Wahrscheinlich war er, was die Gründe betraf, genauso unwissend wie sie, sonst hätte er ihr nicht gesagt, wie alt sie tatsächlich war. Sie glaubte ihm, weil es sie nicht mehr verwunderte, dass ihre Mutter gelogen hatte. Glaubte ihm, weil sie immer gewusst hatte, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte, auch wenn sie nie hatte greifen können, was es war.

„Das bedeutet… das bedeutet, ich wurde kurz nach ihrer großen Reise geboren!“, rief Eleodora auf einmal aus und diese neue Erkenntnis warf abermals hunderte Fragen auf. Es bedeutete, dass ihre Mutter ihren Vater entweder auf der Reise oder kurz danach kennengelernt haben musste, irgendwo auf dem Weg zwischen Bruchtal und dem Einsamen Berg. Mittlerweile war sie wieder auf ihre Füße gesprungen und lief um das Feuer herum. Estel war sich sicher, dass dies nicht wirklich hobbitähnliche Züge waren, die sie annahm, und sicherlich würde es nicht lange dauern, bis sie die restlichen Puzzleteile fand und sie in die korrekte Reihenfolge legte.

„Ich denke, du solltest dich nun ausruhen, wenn wir morgen den ganzen Tag weitergehen wollen“, riet Estel ihr, aber natürlich dachte sie im Moment an alles andere als an ihre erschöpften Füße. Um ehrlich zu sein fühlten sie sich gar nicht mehr so schlimm an, doch selbst das bemerkte sie nur noch halbherzig, während sie weiterhin versuchte, die einzelnen Hinweise, die sie nun schon erhalten hatte, zu verbinden. 

Irgendwann jedoch hatte ihre Müdigkeit gesiegt und sie hatte sich geschlagen geben müssen. Doch das bedeutete nicht, dass die Geschehnisse sie nicht in ihren Träumen verfolgten. Sie durchlebte die Geschichte ihrer Mutter am eigenen Leib, doch dieses Mal war noch ein anderer Hobbit dabei. 

Ein stattlicher Edelhobbit mit dunkelbraunem, beinahe schwarzem Haar, der die kühne und manchmal übermutige Billa Beutlin vor den großen Gefahren gerettet hatte, nachdem sie ihm geholfen hatte, aus den Fängen des grausamen Gollum zu entkommen. Sie stellte sich vor, dass ihr Vater den wütenden Zwergenkönig Thorin Eichenschild davon abgehalten hatte, ihre Mutter von dem Wall zu schmeißen, als ihr Verrat an ihm entdeckt worden war. In ihrem Traum rangen die zwei miteinander, bis der Hobbit den mächtigen Zwerg niedergerungen hatte und die beiden Hobbits vor dessen Zorn fliehen konnten.
Sie mochte es, von ihrem Vater als dem Helden der Geschichte zu träumen, mochte es selbst als sie aufwachte und sich daran erinnerte, dass ihre Mutter nie auch nur ein Wort davon gesagt hatte, dass bei ihrer Reise noch ein anderer Hobbit dabei gewesen war. Aber wie sie schon gesagt hatte, sie hatte nicht die ganze Wahrheit erzählt.

„Kennst du meinen Vater, Estel?“ Sie hatte diese Frage eigentlich gar nicht stellen wollen, kannte sie die Antwort doch eigentlich schon. Selbst wenn er es tat, schien er es ihr nicht sagen zu wollen, sonst hätte er das wahrscheinlich bereits getan.

„Ich bin ihm nie begegnet. Eure Mutter kam alleine nach Bruchtal nach ihrer Reise. Nur Gandalf hat sie begleitet.“ Es tat ihm leid, dass er ihr zumindest nicht alles sagen konnte, denn immerhin wusste er ja ganz genau, wer ihr Vater war. Dennoch hatte er sie nicht angelogen, denn kennengelernt hatte er ihn wirklich nie. Und nach allem, was er wusste, würden weder er, noch sie das jemals nachholen können. 

„Könnte der alte Zauberer ihn gekannt haben?“ Wenn er ihre Mutter auf dem ganzen Weg begleitet hatte, würde er vielleicht etwas mehr über die Geschichte wissen, die tatsächlich hinter der Reise ihrer Mutter steckte. Und vielleicht, wenn sie großes Glück hatte, denn sie wusste nur zu gut, wie Zauberer mit wichtigen Informationen umgingen, würde er ihr sogar etwas davon erzählen.

Wenn er das nicht tun würde, und sie wusste nicht, welche dieser beiden Möglichkeiten wahrscheinlicher war, dann entschied der rebellische und so gar nicht Beutlin-Teil in ihr, dass sie noch weiter ziehen würde. Weiter über die Nebelberge, wenn es sein musste, und sogar durch den schaurigen Düsterwald. Es war ihr egal, wie lange es dauern würde oder welchen Gefahren sie dabei begegnen würde, aber eines war sicher: Ohne das Wissen, wer ihr Vater war, ohne ihn gesprochen zu haben und zu wissen, warum er sie und ihre Mutter alleine gelassen hatte, würde sie nicht ins Auenland zurückkehren.

„Dein Cousin schien sehr um dich besorgt zu sein“, bemerkte Estel, als sie am nächsten Abend ein letztes Mal Rast machten, bevor sie Bruchtal erreichen würden. Die beiden hatten lange geschwiegen, hatte Estel doch keine von Eleodoras Fragen zu ihrer Zufriedenheit beantworten können. Während einer anstrengenden Wanderung, zumindest für einen Hobbit, war Stille auch nicht sonderlich schlimm. Es schonte die sowieso schon viel zu knappe Luft in den Lungen. Doch wenn man zusammen am Feuer saß und eine Mahlzeit einnahm, war es äußerst unangenehm und in den meisten Fällen auch unhöflich, nicht miteinander zu sprechen.

„Saradas ist einer der wenigen entfernten Verwandten, die sich nicht darum scheren, dass ich anders bin.“ Eleodoras Blick war bei diesen Worten starr auf das prasselnde Flammenspiel vor ihr gerichtet. Beinahe so, als versuchte sie damit die schlechten Erinnerungen an die Beleidigungen, die sie hatte ertragen müssen, zu verbrennen. „Er, sein Großvater, seine Mutter und sein Vetter Merry sind die einzigen Brandybocks, die noch ab und zu nach Beutelsend kommen, um mit meiner Mutter, Frodo und mir Kaffee zu trinken.“

Estel wusste natürlich, wie sehr die anderen Hobbits Beutelsend mieden, seitdem klar war, dass irgendetwas an Eleodora anders war als an anderen Hobbits in ihrem Alter, aber dass es die junge Hobbitdame so sehr mitnahm, wie er es nun in ihren Augen sah, das hatte er nicht erwartet. Er hatte immer gehofft, dass die Sturheit ihrer Eltern dazu führen würde, dass sie all diese Beleidigungen an sich abprallen lassen konnte. Doch anscheinend hatte er sich geirrt. Er fragte sich sogar, ob Billianas Entscheidung, ins Auenland zurückzukehren, tatsächlich das Beste für Eleodora gewesen war.

bottom of page