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Kapitel 2

 

Taking the long way 'roud

 

 

 

 

Kalte, etwas verrottend riechende Luft breitete sich wie ein fauler Nebel aus dem dicht bewachsenen Wald über den von einem Moosteppich begrenzten Weg aus. Es schien beinahe, als ob etwas Böses in diesem Wald hauste, oder der Wald zu etwas Bösem führte, und das sagten auch die Legenden, die sich um diesen alten Wald rankten. Es waren Geschichten von lebendigen Bäumen und lebenden Toten, die jenseits des Waldes lebten und jedem, der es schaffte, durch den Wald zu gelangen, entweder zu einem der ihren machten oder fraßen. Legenden, über die die junge Hobbitdame lieber nicht nachdenken wollte, während sie ihre stundenlange Wanderung am Rande des Waldes weiter fortsetzte.

„Ich kann nicht verstehen, dass ihr euch so nahe am Wald wohlfühlt“, bemerkte Eleodora leise, beinahe so, als könne der Alte Wald sie hören und würde sie ob der Beleidigung bestrafen. Der agile Hobbit neben ihr sah sie nur kichernd an. Er wusste nicht, warum seine Verwandten aus Hobbingen einfach vor allem Angst hatten.

„Solange wird den Wald in Ruhe lassen, lässt er uns in Ruhe.“ Diese Erklärung war relativ plausibel, aber das Vertrauen darin fehlte der ängstlichen Hobbitdame leider. Saradok Brandybock war noch relativ jung, es würde noch einige Jahre dauern, bis er erwachsen wurde, aber sie war froh, dass er sich bereiterklärt hatte, sie bis nach Bree zu begleiten. Die Hobbits aus Bockland wanderten öfter nach Bree, um mit dem großen Volk Handel zu treiben. Sie fühlten sich unter den Menschen und Zwergen, die dort verkehrten, nicht ganz so unwohl wie ihre Verwandten aus Hobbingen, die es lieber vermieden, etwas mit anderen Völkern zu tun zu haben.

Eleodoras Mutter war da natürlich eine ziemlich berühmte Ausnahme gewesen. Sie hatte nicht nur mit Menschen und Zwergen zu tun gehabt, sondern auch mit Elben, Zauberern und sogar den dunkleren Kreaturen Mittelerdes. Der bleiche Ork Azog und der zwielichtige Gollum hatten Eleodora bereits als kleiner Hobbit Angst eingejagt und taten es immer noch, wenn sie daran dachte, dass zumindest Gollum noch immer in den Höhlen des Nebelgebirges herumkroch.

„Was willst überhaupt in Bree?“, fragte der durchaus neugierige Hobbit seine entfernte Verwandte. Doch die zuckte nur kurz mit den Schultern. Um ehrlich zu sein wusste sie das selbst nicht so genau. Sie wusste nur, dass sie endlich Antworten haben wollte, dass sie endlich wissen wollte, was an der Geschichte ihrer Mutter nun stimmte, und was eben nicht.

„Ich hoffe dort jemanden zu treffen, der mir einige Fragen beantworten kann“, erwiderte sie ihrem Begleiter. Sie hatte erst gehofft, dass er es auf dieser Antwort beruhen lassen würde, aber natürlich kam es anders. Immerhin war ihr Begleiter kein einfältiger Straffgürtel. Er war ein Brandybock, was so viel wie „Die Neugier in Person“ bedeutete. Daher fügte sie auf seine bohrenden Fragen hin noch hinzu: „Ich habe Grund zu der Annahme, dass nicht alle Geschichten, die meine Mutter erzählt hat, der Wahrheit entsprechen.“ Daraufhin sah Saradok sie beinahe entsetzt an. Wie jeder junge Hobbit hatte auch er die Geschichten von Billa Beutlin als Kind genossen. Das ein oder andere Lied, das die Zwerge angeblich gesungen hatten, kannte er sogar immer noch so gut, dass er es selbst hätte vortragen können, und das jetzt sofort. Alleine der Gedanke daran, dass es Bofur, Kíli oder Fíli vielleicht nie gegeben hatte, war für ihn einfach schrecklich.

„Aber warum sollte sie gelogen haben?“, fragte der braun gelockte Hobbit, beinahe, als wolle er nicht glauben, was er da hörte.

„Ich denke, es hat etwas mit meinem Vater zu tun. Als ich sie auf ihn angesprochen habe, hat sie mir gesagt, dass ihre Geschichte doch etwas anders verlaufen war, als sie es uns bisher hat glauben lassen“, erklärte die brünette Hobbitdame etwas grimmig. Sie hatte ihrer Mutter noch immer nicht ganz verziehen. „Und um ehrlich zu sein, kommt es mir so vor, als würde ich sie gar nicht kennen, als hätte ich mein ganzes Leben mit einer Person verbracht, die nicht das war, was sie mir vorgelebt hat.“

„Ich denke schon, dass an ihren Geschichten auch etwas Wahres dran ist. Immerhin war sie wirklich lange weg und ist dann irgendwann mit dir wiedergekommen, zumindest sagt der Thain das.“ An der Schlussfolgerungen des jungen Hobbit war definitiv etwas dran. Aber wahrscheinlich war die wirkliche Geschichte, warum Billiana Beutlin so lange aus dem Auenland verschwunden war, eine gänzlich andere und deutlich unspektakulärer als die Geschichte über die dreizehn Zwerge und ihre gemeinsame Reise zum Einsamen Berg, um einen echten Drachen zu verjagen.

Und genau das waren die Überlegungen, zu denen sie in Bree auf Antwort hoffte. Und wenn nicht dort, dann musste sie eben noch weiter nach Osten Richtung Bruchtal wandern, auch wenn ihr der Gedanke, so weit weg von zu Hause zu sein, doch etwas Angst einjagte. Dazu kam noch, dass sie von Bree aus höchstwahrscheinlich alleine weiterziehen würde, und die Große Oststraße war schon lange nicht mehr so sicher, wie sie vielleicht noch vor 40 Jahren gewesen war.

„Hätten wir die Abkürzung durch den Alten Wald genommen, wären wir schon längst dort“, jammerte der jüngere Hobbit dann, als Eleodora und er das Lager für die Nacht bereitmachten. Es war nicht die beste Lösung, hier im Freien zu übernachten, aber es war besser, als die ganze Nacht durchzulaufen und sich vielleicht ob der Müdigkeit noch zu verlaufen.

„Keine zehn Pferde hätten mich in diesen Wald gebracht“, stellte sie äußerst müde klar und gähnte genüsslich, während sie sich langsam unter ihre Decke legte. Das kleine Lagerfeuer prasselte angenehm vor sich hin und da sie die Ältere der beiden war, bot Eleodora, an die erste Wache zu übernehmen. Nicht dass es wirklich zwingend notwendig gewesen wäre, aber man konnte nie vorsichtig genug sein, das hatte ihre Mutter ihr schon ziemlich früh beigebracht.

Es war schon relativ hell als Eleodora aufwachte und bemerkte, dass sie anscheinend doch eingeschlafen sein musste. Der Gedanke ließ ein gewisses Unbehagen in ihr aufsteigen, hatte sie ihrer Cousine doch versprochen, dass sie gut auf ihren kleinen Sohn aufpassen würde. Wenn nun tatsächlich jemand die beiden Hobbits entdeckt und angegriffen hätte, sie hätte wahrscheinlich noch nicht einmal etwas davon mitbekommen. Schnell stand sie von ihrem Lager auf und begann alles sorgfältig aufzuräumen, bevor sie ihren tapferen Begleiter weckte.

„Hast du mich die ganze Nacht schlafen lassen?“, fragte der neugierige, junge Brandybock erstaunt und dankbar zugleich. „Aber du warst doch so erschöpft.“ Da er sie so bewundernd ansah, wollte Eleodora ihm keine Angst einjagen, indem sie ihm gestand, dass sie in der Tat ebenfalls eingeschlafen war. Sie ließ ihn lieber in dem Glauben, sie habe die ganze Zeit auf ihn aufgepasst, auch wenn er schon lange aus dem Alter heraus war, indem man ihn ernsthaft hätte beschützen müssen.

Laut klirrten die einzelnen Utensilien, die Eleodora von ihren Verwandten in den Rucksack gepackt worden waren, während sie vergeblich versuchte, an ihren Frühstücksproviant heranzukommen, ohne dabei den gesammelten Rucksack auspacken zu müssen. Doch egal wie klein ihre Hände auch sonst waren, der Rucksack war einfach viel zu voll. Seufzend räumte sie die Töpfe, Gabeln und Teller heraus, die Saradoks Mutter anscheinend noch zu den Sachen, die Eleodora selbst mitgenommen hatte, gepackt hatte. Erst darunter fand sie das Handtuch, unter dem sie das Brot versteckt hatte, das sie gesucht hatte. Sie hatten den Mitternachtssnack in der letzten Nacht versäumt und daher hatte sie großen Hunger, und ihrem tapferen Begleiter konnte es nicht viel anders gehen.

„Meinft du, deine Muffer sucht dich fon?“, fragte Saradok mit vollem Mund, sodass man ihn nur verstehen konnte, wenn man selbst ein Hobbit war und wusste, wie man damit umzugehen hatte.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mittlerweile schon in Bockland angekommen ist“, bemerkte die immer noch ziemlich beleidigte Tochter Billiana Beutlins desinteressiert. „Aber ich denke, weiter wird sie nicht gehen. Immerhin kann sie Frodo nicht alleine lassen.“ Mit der Überlegung hatte sie noch nicht einmal Unrecht. Frodo war noch nicht erwachsen und so durfte er nur eine begrenzte Zeit ohne einen Vormund alleine bleiben. Nach Bree würde Billa ihr also nur folgen können, wenn sie Frodo mitnahm. Und dieses Risiko würde sie sicherlich niemals eingehen.

„Meine Mutter hat mir übrigens das hier noch für dich mitgegeben“, bemerkte Saradok und kramte nun seinerseits in seinem Rucksack herum. „Sie sagte, deine Mutter hätte es ihr gegeben, als sie mit dir von ihrer großen Reise wiederkam, weil sie es nicht haben wollte. Aber es sollte dir gehören.“ Vorsichtig holte er eine kleine Schatulle aus seinem Ranzen hervor. Sie war aus einem beinahe weiß strahlenden Metall, verziert mit Edelsteinen, geometrischen Figuren und für Eleodora unentzifferbaren Runen. „Der Thain sagt, das sind Zwergenrunen“, erklärte der Kleine beinahe ehrfürchtig. „Aber keiner hier kann sie lesen.“

„Warum hat die noch niemand mit nach Bree genommen, um es dort übersetzen zu lassen? Sicherlich hätte es dort Zwerge gegeben, die das hätten tun können.“

„Bestimmt, aber niemand wollte riskieren, dass es verloren geht, bevor wir es dir geben konnten“, erklärte Saradok weiter und bedeutete ihr, die Schatulle zu öffnen. Wenn sie tatsächlich von Zwergen gemacht war, dann hatte ihre Mutter zumindest Zwerge getroffen. Aber sie war sich fast sicher, dass sie nicht an Billianas Tür geklopft und sie einfach überfallen hatten, so wie ihre Mutter es ihr immer erzählt hatte. Wahrscheinlich war sie einfach nach Bree gewandert und war dann in ein Abenteuer hineingerissen worden.

Als sie die Schatulle geöffnet hatte, war sie so erstaunt, dass sie noch nicht mal einen Ton von sich geben konnte. Auch Saradok, der neugierig hinter ihr gestanden hatte, blickte ungläubig in die weiß-silberne Box, in der es nur so funkelte. Vorsichtig, beinahe so, als könnte der Inhalt jeden Augenblick verschwinden, versuchte Eleodora danach zu greifen. Die Schatulle war in der Tat eine Art Schmuckkästchen, und das Erste, was die verblüffte Hobbitdame herausholte, war eine glitzernde Kette. Sie war anscheinend aus demselben Material gemacht, wie die Schatulle selbst. Was an ihr so funkelte, waren die kleinen, dunkelblauen, in Diamantenform geschliffenen Edelsteine, die filigran in die für Zwerge so typischen Formen und Strukturen eingebaut waren. Es war eine äußerst beeindruckende Kette und es war klar, warum sich damit niemand nach Bree getraut hatte.

Wer auch immer so etwas in der Öffentlichkeit zeigte, würde einem Räuber nicht lange entgehen, und kein Hobbit würde jemals solch ein Risiko eingehen, selbst aus Neugierde nicht. Doch die Kette was nicht das einzige, das sich dort verbarg.

„Ist das eine Strähne deiner Mutter?“, fragte Saradok und zeigte auf einen blonden Haarstrang im Inneren. Vorsichtig nahm Eleodora das in ein Tuch gewickelte Haar heraus und entfaltete es mit Bedacht. Die Strähne war relativ kurz und an einem Ende mit einem Faden zusammengebunden. Der Bindfaden hielt gleichzeitig eine aus Metall gefertigte Perle. Sie war zylinderförmig und auf der Oberfläche war etwas eingraviert. Die hervorstehenden Linien waren aus Silber, aber die tieferen Stellen sahen beinahe aus, als habe sich Ruß darin abgesetzt. Und bei genauerem Betrachten fiel Eleodora auf, dass auch einige der Haare angesengt aussahen.

Über der Perle selbst waren weitere Schmuckstücke auf die Haare gefädelt worden. Manche waren wertvoll aussehende Edelsteine, andere schienen aus Holz oder Metall gemacht zu sein, aber keine schien dort wahllos zu sitzen.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Saradok, dem diese Tatsache anscheinend ebenfalls aufgefallen war. Die Gefragte zuckte allerdings nur mit ihren Schultern. Sie hatte selbst keine Ahnung, denn woher sollte sie das auch wissen? Sie sah diese Sachen zum ersten Mal in ihrem Leben, oder zumindest war dies das erste Mal, dass sie sich daran erinnern konnte. Ohne ihrem entfernten Cousin eine Antwort zu geben, griff sie nochmals in die Schatulle und fand etwas, das sie in dem Glauben bestärkte, dass diese Dinge und die Box tatsächlich einmal ihrer Mutter gehört haben mussten.

„Sieh doch, das sind ihre Eichel-Knöpfe!“, rief Eleodora überrascht aus. Es waren noch genau vier Stück, denn den Fünften hatte Billiana laut ihren Geschichten damals im Nebelgebirge bei der Flucht vor Gollum verloren. Und wieder einmal fühlte sich Eleodora genau an die Stelle erinnert, an der ihr ihre Mutter immer von Gollum und ihrer Flucht vor diesem unheimlichen Wesen erzählt hatte.

„Vielleicht war doch nicht alles, was sie erzählt hat, ein Märchen“, sagte Saradok mit einem verschwörerischen Grinsen in Eleodoras Richtung. Auch sie musste einen Moment lang grinsen, als das kleine Hobbitmädchen wieder zum Vorschein kam, das die Geschichten ihrer Mutter immer geliebt hatte und nichts lieber getan hätte, als mit ihrer Mutter zum Einsamen Berg zu reisen und die Zwerge zu besuchen.

 

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