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Neutralität?

 

 

 

 

Hecktisch schmiss ich mein Handy auf den Beifahrersitz meines Wagens, immer noch die Elbenohren und die blonde Perücke an meinem Kopf. Ich achtete gar nicht darauf, dass Maria mir förmlich hinterher lief und mich immer wieder rief. Es war nicht wichtig, nicht in diesem Moment. Ich musste so schnell wie möglich zum Flughafen kommen. Ich wusste, Peter würde es verstehen, wenn er nachher wieder am Set eintreffen würde. Er würde verstehen, dass ich nun nicht am Set bleiben konnte, sondern zu meiner Familie musste.

 

Vor genau 10 Minuten, mitten während der Drehpause, hatte mein Handy geklingelt. Es war das wellingtoner Krankenhaus gewesen, schon wieder. Doch diesmal wollten sie mir nicht am Telefon sagen, was passiert war, und das machte mich mehr als unruhig. Ich fuhr also ohne Maria zu beachten in Richtung des kleinen Flughafens, an dem wir gestern angekommen waren. Irgendwie würde ich schon wieder nach Wellington kommen, dafür würde ich sorgen.

 

Ich bekam nicht wirklich viel von der Fahrt mit, und wahrscheinlich war es ein reines Wunder, dass ich keinen Verkehrsunfall baute, so aufgelöst und hektisch wie ich fuhr, aber es war ja auch mehr als verständlich. Es war nun das zweite Mal in wenigen Wochen, dass mein Sohn, mein kleiner gerade einmal ein paar Monate alter Sohn, wieder im Krankenhaus war. Ich musste bei ihm sein, machte mir furchtbare Sorgen um ihn.

 

„Hören Sie“, sagte ich zu der Frau am Check In-Schalter und sah kurz auf ihr Namensschild, um sie persönlich ansprechen zu können, „Jane. Ich habe gerade einen Anruf aus Wellington bekommen, dass mein Sohn im Krankenhaus liegt. Er ist gerade einmal 4 Monate alt, bitte. Ich muss irgendwie zu ihm.“ Die Frau sah mich erst skeptisch an, aber dann sah sie anscheinend die Ehrlichkeit in meinen Augen. Einen Moment wunderte ich mich, ob vielleicht noch andere mit so einer Masche schnell einen Flieger bekommen wollten und sie daher skeptisch gewesen war, aber der Gedanke verflog direkt, als sie mir ein Ticket aushändigte und mir sagte, dass ich mich beeilen müsse, da das Boarding der Maschine schon begonnen hatte. Sie würden nicht lange auf mich warten.

 

Ich rannte so schnell ich konnte durch den Flughafen, der mir nun, da ich es eilig hatte, viel größer vorkam als noch gestern bei unserer Ankunft. Ich sah, wie andere Fluggäste mich argwöhnisch ansahen, als ich an ihnen vorbei lief, und sie die Köpfe schüttelten. Ich dachte nicht weiter über sie nach, denn es gab Wichtigeres. Mir ging durch den Kopf, was wohl passiert sein konnte. War er Astrate wieder heruntergefallen? Hätte ich ihn vielleicht doch noch nicht mit ihr alleine lassen sollen? War es noch zu früh? Ich verstand ja, dass sie unter dem Verlust unserer kleinen Tochter litt. Auch ich wusste noch immer nicht so recht, wie ich damit umgehen sollte. Aber ich wusste, unser kleiner Seth konnte nichts dafür. Natürlich, es war seine Nabelschnur gewesen, die sich um den Hals seiner Schwester gewickelt hatte, aber das konnte man dem Kleinen ja schlecht zum Vorwurf machen, ich zumindest nicht.

 

Ich hatte schon am ersten Tag gespürt, dass Astrate dies innerlich tat. Sie gab ihm die Schuld am Tod seiner Schwester, der Tochter, die sie so sehr gewollt hatte. Deswegen war ich auch damals mit Seth zu Teti gegangen. Irgendwie hatte ich gewusst, dass sie den Kleinen lieben würde, dass sie in ihm das sah, was er war:, ein wunderbarer kleiner Junge. Und als Astrate Seth tatsächlich nicht annehmen wollte, war sie es gewesen, die sich immer wieder bereit erklärt hatte, den Kleinen zu nehmen. Sie hatte sich benommen wie eine Mutter und es hatte in mir das alte Gefühl geweckt, das, was ich immer wieder versucht hatte zu verstecken. Ich liebte sie, dessen war ich mir sicher, und ich hatte auch nie daran gezweifelt. Ich hatte nur eingesehen, dass es nicht hatte sein dürfen. Ich hatte lange mit Viggo über Teti und Astrate gesprochen, war mit ihm die Vorzüge und Nachteile der beiden durchgegangen, hatte sogar versucht eine Liste mit Sachen zu schreiben, die mich an Teti aufregten, um mir über meine Gefühle für sie klar zu werden. Aber ich hatte es nicht geschafft. Die Liste war eher zu einer Art Lobpreisung an sie geworden und ich hatte Viggo gebeten sie zu verstecken, damit niemand sie finden würde.

 

In einigen Moment in den vergangenen 6 Monaten hatte ich sogar das ein oder andere Mal daran gedacht, ein anderes Leben zu führen, ein Leben mit zwei Frauen an meiner Seite. Ich hatte daran gedacht, wie viele Männer doch von einem sogenannten „Dreier“ träumten und damit nur den Sex meinten. Und da war ich und verschwendete den Gedanken daran, nicht nur in Sachen Sex einen „Dreier“ zu haben. Aber diesen Gedanken hatte ich schnell verworfen. In unserer modernen Welt gab es den Gedanken, zwei oder mehr Menschen zu lieben, nicht. Es war eine Sache, über die nicht geredet wurde, und Leute, die es taten, galten direkt als krank oder zumindest seltsam. Dabei hatte es über Jahrhunderte so etwas wie Monogamie nicht gegeben. Wenn man genau darüber nachdachte, was basierte in der Natur schon auf Monogamie? Intensiver betrachtete waren vielleicht 3 – 5 % aller Arten, die auf der Erde lebten, tatsächlich monogam, und selbst dabei handelte es sich meist eher um eine soziale Monogamie als um eine sexuelle.

 

Als dieser Gedanke jedoch im Flugzeug wieder hochkam, scholl ich mich selbst einen Narren. Natürlich lebten wir monogam und wahrscheinlich wäre ich selbst durchgedreht, hatte ich gewusst, dass Astrate einen anderen Mann hatte als mich. Ich weiß noch wie ich mich manchmal gefühlt hatte, wenn ich gesehen hatte, wie Dom Teti berührt hatte, und ich hatte noch nicht einmal einen Anspruch auf sie gehabt. Und doch, wenn ich an Teti dachte, dachte ich unweigerlich an „meine Teti“, nicht an einfach nur Teti oder „Doms Teti“, nein, „meine Teti“. Ich hatte also in meinem Kopf zwei Frauen und ich liebte sie beide, nur auf eine andere Weise. War ich deswegen ein schlechter Mensch? Natürlich, es war nicht gerade rühmlich, dass ich Astrate liebte, weil sie attraktiv und, wenn man es so ausdrücken konnte, wirklich die Kunst der Verführung verstand, aber es änderte nichts an der Tatsache. Bei Teti liebte ich es, wie sie mich zum Lachen bringen konnte, wie sie immer wieder etwas Neues aus mit herauskitzeln konnte und mich zu Höchstformen bringen konnte, nur durch einen einzigen Blick.

 

„Sie sehen gestresst aus. Kann ich Ihnen etwas zu Trinken anbieten?“, riss mich eine der Flugbegleiterinnen aus meinen Gedanken. Sie lächelte mich freundlich an. Ich fragte mich, wie sie wohl zur Monogamie stand. Hatte sie schon einmal darüber nachgedacht, zwei Männer zu lieben. Ich schüttelte schnell meinen Kopf. Ich musste mir diese Gedanken wirklich aus dem Kopf schlagen. Es fühlte sich ja schon schlecht an, wenn ich nur darüber nachdachte. Wie sollte es also sein, wenn man es auch noch aussprach oder auslebte?

 

„Nein, danke. Ich muss nachher noch mit dem Auto weiter“, sagte ich also einfach nur und die Frau ließ mich auch schon wieder alleine. Als ich dann aus dem Fenster sah, bemerkte ich, dass die Sonne schon langsam unterging und hoffte, dass wir Wellington noch rechtzeitig erreichten, damit ich wenigstens noch mit einem Arzt sprechen konnte, der mir sagte, was passiert war.

 

„Bitte, Mr. Bloom, beruhigen Sie sich.“ Die Stimme des Beamten drang nur vage an mein Ohr. Ich war außer mir. Sie wollten mich nicht zu meinem Sohn lassen. Sobald der Flieger in Wellington gelandet war, war ich auf dem schnellsten Wege zum Krankenhaus gefahren, und jetzt wollten sie mich nicht zu ihm lassen.

 

„Mein Sohn ist verletzt! Er braucht seinen Vater!“, schrie ich den Beamten förmlich an. Es war mir egal, ob er mir ein Ordnungsgeld auferlegen würde, ich musste zu meinem Sohn. Das musste er doch verstehen.

 

„Ihr Sohn schläft, das haben mir die Ärzte versichert. Sie haben also Zeit sich mit uns zu unterhalten“, sagte er ruhig und ich musste mich wirklich zusammenreißen. Hatte dieser Kerl Kinder? Hatte er sich je Sorgen um sie gemacht? Wahrscheinlich keins von beidem. Nur Kinderlose konnten nicht verstehen, dass man erst sichergehen wollte, ob das eigene Kind gesund, war bevor man irgendetwas machte.

 

„Hören Sie, ich bin vor genau 4 Stunden angerufen worden, dass mein Sohn eingeliefert wurde, da war ich gerade in Hamilton. Meinen Sie, ich habe diesen Weg innerhalb von 4 Stunden zurück gelegt, um mit ihnen zu sprechen?“

 

„Mr. Bloom“, sprang nun die Kollegin des Beamten ein. Sie war eindeutig ruhiger als ihr männlicher Kollege. „Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind. Ihrem Sohn geht es den Umständen entsprechend gut. Er hat viel geschrien und ist nun endlich eingeschlafen. Sie sollten ihm etwas Ruhe gönnen. Das mit ihrem Sohn war kein normaler Unfall, glauben sie mir. Sonst wären wir nicht hier.“

 

„Was ist passiert?“ die ruhige Art der Frau hatte mich sofort gefangen. Ich beruhigte mich selbst ein kleines Stück und hörte auf, immer wieder gegen ihren Kollegen zu drücken, damit er mich zu meinem Sohn durchließ.

 

„Kennen Sie eine Miss Teti Kensington?“, fragte die junge Frau ruhig, als ich mich mit ihnen in den Warteraum der Kinderstation gesetzt hatte. Die Krankenschwester versicherte, mir sofort Bescheid zu geben, falls mein Sohn aufwachte. Ich sah die Beamtin einen Moment an. Was hatte Teti mit dem Ganzen zu tun? Hatte sie Seth hergebracht? Ich konnte zwar nicht glauben, dass Astrate gerade Teti anrief, wenn etwas mit Seth schief gelaufen war, aber ich konnte mir nichts anderes vorstellen. Ich nickte also und erklärte ihr, wie ich offiziell zu Teti stand.

 

„Sie ist in Ihr Haus eingedrungen und wollte Ihren Sohn entführen.“ Ich brauchte einen Moment, bis diese Worte den Weg von meinen Ohren in mein Gehirn zurückgelegt hatte. Es schien beinahe so, als sei der Verkehr auf der Synapsen-Autobahn meines Gehirnes ausgefallen, aufgrund der Schwere der Worte. „Ihre Verlobte hat versucht, sie aufzuhalten. Bei dem Versuch zu fliehen ist Miss Kensington dann mit Ihrem Sohn auf dem Arm die Treppen herunter gefallen.“

 

„Nein“, sagte ich nur. Die verwirrten Blicke der beiden Polizisten waren mir egal. Ich hatte das Nein eher zu mir gesagt als zu ihnen. Denn das, was ich hörte, konnte nicht wahr sein. Wahrscheinlich hatte ich mich komplett verhört. Warum sollte Teti in mein Haus einbrechen wollen? Warum sollte sie Seth entführen, wenn sie ihn doch sowieso eigentlich jeden Tag bei sich hatte? Es passte einfach nicht zu ihr.

 

„Das war das, was Ihre Verlobte uns berichtet hat. Und die Verletzungen von Miss Kensington stimmen damit überein.“ Der ältere Mann sah beinahe aus, als sei die Sache für ihn dadurch klar. Natürlich, eigentlich hätte ich sofort glauben müssen, was ich gehört hatte, immerhin hatte Astrate anscheinend selbst die Aussage gemacht. Aber warum glaubte ich das nicht? Warum konnte ich nicht glauben, was passiert war?

 

„Teti ist verletzt?“, fragte ich und ein innerer Drang in mir entstand, nach ihr zu sehen. Doch dann kam auch schon Astrate um die Ecke gerannt. Sie war in Tränen aufgelöst, oder zumindest sah sie so aus, als hatte sie in den letzten Minuten stark geweint. Machte sie sich tatsächlich Sorgen um Seth? Aber natürlich machte sie sich Sorgen. Er war ihr Sohn und sie hatte gerade erst ihre Tochter verloren. Wie konnte eine Mutter sich nicht um ihr Kind sorgen? Ich ging also auf sie zu und schloss sie in meine Arme.

 

„Es war schrecklich!“, fing sie sofort an zu schluchzen und ich strich mit meiner Hand über ihre Haare, während sie ihr Gesicht an meiner Brust vergrub. Ich versuchte sie zu beruhigen, versuchte ihren Körper davon abzuhalten, unkontrolliert zu beben, aber es gelang mir nicht. Die beiden Beamten beobachteten uns still und der ältere Mann sah mich eindringlich an. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich, als würde er direkt durch mich hindurch sehen, als würde er mit einem einzigen Blick erkennen, dass ich nicht nur meine Verlobte liebte, sondern auch die Frau, die angeblich meinen Sohn hatte entführen wollen. Ich sah direkt wieder weg. Was dachte er wohl über mich?

 

„Was ist denn passiert?“, fragte ich sie dann nach einer Weile, als sie sich wieder beruhigt hatte.

 

„Seth hat seinen Mittagsschlaf gemacht und ich bin auch auf dem Sofa eingeschlafen. Er hat sehr viel geschrien heute, ich glaube, er hat seinen Daddy vermisst. Ich war vollkommen kraftlos … Ich musste mich hinlegen. Ich konnte ja nicht wissen …“

 

„Keiner macht Ihnen einen Vorwurf“, sagte der ältere Beamte und legte Astrate eine Hand auf die Schulter. Astrate sah ihn dankend an und versuchte zu lächeln, aber es schien nicht zu klappen, verständlicherweise. Ich war auch nicht zum Lachen aufgelegt.

 

„Ich bin erst aufgewacht, als ich Seth habe schreien hören. Da war Teti aber schon beinahe wieder mit ihm draußen. Ich bin hinter ihr hergelaufen, aber sie hat nicht reagiert. Sie ist einfach weiter gegangen. An der Treppe habe ich sie dann eingeholt. Ich wollte die festhalten… Sie konnte mir doch nicht meinen Sohn wegnehmen! Ich habe doch erst Isis verloren!“ Wieder liefen Tränen ihre Wangen hinunter und es weckte in mir den Beschützerinstinkt. Ich schlang meine Arme um Astrate. Wenn sie so weinte, dann musste es doch stimmen. Zumindest sagte das ein Teil von mir. Ein Anderer wollte es jedoch nicht wahrhaben. „Dann hat sie ihr Gleichgewicht verloren und ist die Treppe runter gefallen. Sie hat sich an Seth geklammert, als sei er ein Rettungsring, als sei er ein Mittel, um den Aufprall abzudämpfen! Sie hätte ihn töten können!“

 

„Beruhigen Sie sich, Miss Bechali. Ihrem Sohn geht es soweit gut“, sagte der Beamte wieder. „Und seien Sie sich sicher, Miss Kensington wird nicht ungestraft davonkommen. Auf Kindesentführung steht eine hohe Freiheitsstrafe.“

 

„Siehst du jetzt, was du für eine beste Freundin hast?“, sagte Astrate beinahe vorwurfsvoll. „Ich habe dir gesagt, sie soll sich von Seth fernhalten! Ich habe gewusst, dass so etwas passiert! Eine Mutter merkt so etwas!“ Dann trommelte sie kraftlos mit ihren Fäusten auf meine Brust und ich musste ihre Hände festhalten, damit sie damit aufhörte. Sie tat mir leid und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie diese Verzweiflung nur spielte.

 

„Ich muss zu Teti“, sagte ich dann leise. Astrate sah mich beinahe geschockt an und riss an meinem Arm. Sie flehte mich an nicht zu gehen, sie wollte nicht, dass ich noch ein Wort mit Teti sprach. Aber der Teil in mir, der nicht wollte, dass das alles wahr war, musste Tetis Erklärung hören, und auch der andere Teil wollte zumindest eine Begründung haben, denn es brach mir in gewisser Weise das Herz.

 

„Ich muss es tun, nur dann kann ich mit der Sache abschließen“, sagte ich darauf und ließ Astrate zurück. Auf dem Weg zu Teti ging mir das, was Astrate mir erzählt hatte, immer wieder durch den Kopf. War es doch falsch gewesen, Seth immer Teti anzuvertrauen? Hatte das vielleicht etwas in ihr ausgelöst, das sie so hatte handeln lassen? Oder hatte ich sie immer total falsch eingeschätzt? Hatte ich mich durch meine Gefühle für sie so blenden lassen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie sie wirklich war? Oder war es vielleicht die Eifersucht auf Astrate gewesen, die Teti dazu getrieben hatte? Was immer es auch gewesen war, es war falsch gewesen, denn mein Sohn hatte darunter leiden müssen, und das machte mich wütend.

 

„Wo ist das Zimmer von Miss Kensington?“, fragte ich eine der Krankenschwestern auf der Station, wo Teti laut den Beamten liegen sollte. Die Krankenschwester zeigte auf das letzte Zimmer im Gang und ich ging mit großen Schritten darauf zu. Als ich die Tür aufmachte, achtete ich gar nicht darauf, dass Maria dort bereits saß. Ich wunderte mich nicht, dass sie schon hier war, obwohl sie ja heute Vormittag noch zusammen mit mir in Hamilton gewesen war. Vielleicht hatte sie auch einen schnellen Flug hierher bekommen und war kurz nach mir gelandet. Die Auseinandersetzung mit den Beamten und Astrate hatte mich sicher zwei Stunden gekostet, auch wenn es mir nicht so vorkam.

 

Teti lag in ihrem Krankenbett und sah grässlich aus. Ich konnte kaum atmen, so sehr nahm mich das mit. Doch ich musste jetzt standhaft bleiben. Deswegen schob ich alle Gefühle zur Seite und sah sie eindringlich an.

 

„Ich möchte deine Version hören… mehr nicht“, sagte ich und ich war mir selbst nicht sicher, was ich tun sollte, was ich in dem Moment dachte. Ich wollte einfach nur ihre Version der Dinge hören, damit ich für mich selbst ausmachen konnte, was nun tatsächlich passiert war. Aber ihre Variante war so komplett anders als die von Astrate, dass es mich eigentlich nur noch mehr verwirrte.

 

Laut Teti war Astrate nicht zu Hause auf dem Sofa gewesen, sondern sie hatte sie in der Stadt gesehen, ohne Seth, und hatte sich daher Sorgen um ihn gemacht. Daraufhin war sie zu meinem Haus gefahren, wo sie Seth vermutet hatte. „Ich hörte nichts von Seth, also nahm ich an, Astrate hatte ihn einer Freundin gegeben. Ich wollte gehen, aber dann stand sie auf einmal hinter mir. Sie wollte mich nicht gehenlassen und auf einmal habe ich Seth schreien hören. Er war doch im Haus gewesen. Orlando, sie hat ihn alleine gelassen! Dann wollte ich zu ihm durch, wollte sicher gehen, dass es ihm gut ging, aber sie packte mich und schubste mich die Treppe herunter. Ich schwöre dir, Seth war im Haus, sicherlich nicht in meinen Armen.“

 

Ich wusste nicht mehr, wem ich noch glauben sollte. Teti sah mich mit einem so eindringlichen Blick an, wollte anscheinend, dass ich ihr glaubte, aber was sollte ich tun? Sollte ich Teti vor Astrate vertrauen? Astrate war meine Verlobte, die Mutter meines Sohnes und die Frau, für die ich mich anstelle von Teti entschieden hatte, auch wenn Teti und ich einander nie wirklich gezeigt hatten, was wir für einander empfanden. Ich konnte mir dennoch vorstellen, dass sie vielleicht eifersüchtig auf Astrate war. Aber würde sie deswegen meinem Sohn schaden? Hatte sie mir die Liebe zu meinem Sohn vielleicht wirklich nur vorgespielt, um mich für sich zu gewinnen, wie Astrate es immer behauptete? Hatte sie vielleicht jetzt, da Astrate sich selbst um Seth kümmerte, Angst gehabt, sie würde die Möglichkeit verlieren, mich für sich zu gewinnen, und hatte Seth deshalb entführen wollen?

 

Ich nickte ihr einmal zu und ging aus dem Zimmer, ohne sie noch mal anzusehen und ohne ein Wort zu ihr zu sagen. Ich konnte nichts sagen. Ich fühlte mich seltsam leer. Nachdem ich ziellos den Gang der Station wieder entlang gegangen war und in den Aufzug ging, lehnte ich mich an die Wand. Ich drückte sofort auf dem Knopf, der die Tür schloss, damit niemand mehr zusteigen konnte, drückte aber keinen anderen Kopf, um zu signalisieren, wo ich hin wollte. Ich rutschte einfach an der Wand nach unten auf den Boden. Mein Kopf war leer und doch fühlte es sich so an, als müsse er gleich explodieren. Mir flogen hunderte, nein tausende Gedanken durch den Kopf, doch ich konnte mich auf keinen von ihnen konzentrieren. Sie flogen direkt wieder heraus und lösten sich im Nichts auf.

 

Wie sollte ich jemals herausfinden, was wirklich passiert war? In jeder Aussage steckt immer auch ein bisschen Wahrheit, sagte man. Aber diese beiden Aussagen waren so grundverschieden, dass es nichts gab, was wirklich übereinstimmte.

 

Als der Fahrstuhl dann doch seinen Betrieb wieder aufnahm riss ich mich zusammen und stand wieder auf. Was tatsächlich passiert war, sollte die Justiz herausbekommen. Ich musste mich um meinen Sohn kümmern, er brauchte mich jetzt am meisten.

 

Die nächsten drei Monate ließen mich die Fragen zu dem Geschehenen nicht los und das nicht nur, weil meine Freunde und Kollegen immer wieder danach fragten. Keiner von ihnen konnte sich wirklich vorstellen, dass Teti etwas damit zu tun hatte. Sie alle kannten sie und sie alle wussten, genauso gut wie ich es eigentlich hätte wissen müssen, dass Teti so etwas niemals getan hätte. Besonders Viggo redete immer wieder auf mich ein. Er war sich sicher, dass eher Tetis Version die Richtige war als die von Astrate, aber ich konnte meine Verlobte doch nicht so beschuldigen. Ich hatte ihr gegenüber eine Verantwortung und das bedeutete auch, dass ich ihr nicht in den Rücken fallen sollte.

 

Das Gutachten des Kinderarztes ließ mich jedoch in meinem Vertrauen ihr gegenüber etwas zögern. Laut ihm waren die Prellungen nicht durch einen Sturz verursacht worden, sondern alle bereits älter gewesen waren. Ich hatte keine blauen Flecken bei ihm bemerkt, als ich nach Hamilton geflogen war. Diese mussten also erst danach entstanden sein, als Astrate laut ihrer Aussage mit dem Kleinen alleine gewesen war. Ich hatte ihr jedoch von diesen Zweifeln nichts erzählt.

 

Als der Gerichtstag dann gekommen war, wusste ich wirklich nicht mehr, was ich machen sollte. Ich war als Zeuge geladen worden, immerhin kannte ich beide Frauen und es stand Aussage gegen Aussage. Aber welche nun die einzig Wahre war, konnte ich nicht sagen. Ich saß also ziemlich nervös draußen vor dem Gerichtssaal, während innen bereits der Prozess im Gange war. Seth schlief in meinem Arm und ich war froh darüber. So konnte ich ihn mit meiner Nervosität wenigstens nicht anstecken. Er hatte unter der ganzen Sache bereits genug gelitten. Ich überlegte hin und her, was ich gleich sagen würde, wie ich es schaffen sollte, mich auf keine der beiden Seiten zu stellen, denn das konnte ich nicht.

 

„Ich bitte Mr. Bloom in den Sitzungssaal“, hörte ich dann auch schon die Stimme einer Frau. Das musste die Richterin sein. Mein Puls stieg an. Ich war noch nie in einem Gerichtssaal gewesen und selbst als Zeuge fühlte ich mich, als hätte ich irgendetwas verbrochen, als ich mit Seth in meinem Arm eintrat. Alle sahen mich an. Meine Freunde, die anwesend waren, um mich und vor allem Teti zu unterstützen, sahen mich mit einem unterstützenden Lächeln an, während ebenfalls andere dabei waren, die ich nicht kannte und deren Blicke mich noch nervöser machten. Was war bereits alles gesagt worden? Sicherlich war bereits die mögliche Eifersucht zur Sprache gekommen und man hielt mich für einen widerwärtigen Herzensbrecher.

 

Ich ging nach vorne und wollte Astrate den kleinen Seth auf den Arm geben. Ich dachte mir, das war vor Gericht wohl am besten, aber sie reagierte nur mit einem komischen Blick. Ich kannte diesen Blick. Sie wollte ihn nicht halten, also drehte ich wieder um und gab Seth zu Maria, aber der verwirrte Blick der Richterin war offensichtlich. Sie verstand nicht, warum Astrate ihr Kind nicht haben wollte, das sah ich ihr an.

 

„Zuerst zu Ihren Personalien. Ihr Name ist Orlando Jonathan Blanchard Bloom, geboren wurden Sie am 13. Januar 1977 in Canterbury, Großbritannien. Sie leben hier in Wellington seit einem Jahr und sind mit der Angeklagten weder verwandt noch verschwägert“, las die Richterin vor. Ich nickte nur und versuchte beinahe krampfhaft Teti nicht anzusehen. Sicherlich würde es nicht hilfreich sein, wenn ich sie nun ansah, vor allem wollte ich nicht sehen, wie sie aussah. Ich wollte nicht sehen, dass sie vielleicht schuldig aussah.

 

Dann berichtete ich der Richterin, wie ich von der ganzen Sache erfahren hatte, wie Astrate mich aufgelöst angerufen hatte und ich mich sofort auf den Weg gemacht hatte. Wie besorgt ich den ganzen Flug über gewesen war, dass meinem Sohn etwas Schlimmes zugestoßen sein konnte. Seth war mein Hauptthema in diesem Teil. Ich wollte so lange wie möglich verhindern, über Teti und Astrate zu reden, denn ich wusste immer noch nicht, was ich denken sollte. Aber es war verständlicherweise schwer, dieses Thema hier zu umgehen. Und, wie sollte es auch anders sein, der Staatsanwalt stieß mich direkt mit der Nase darauf.

 

„Mr. Bloom, es ist doch deutlich ersichtlich, dass Miss Kensington Gefühle für Sie hegt. Meinen Sie nicht, sie wollte so versuchen, Sie für sich zu gewinnen?“ Und dann konnte ich nicht mehr anders und sah Teti für einen kurzen Moment an. Ich konnte das leichte Lächeln nicht verbergen. Natürlich hatte Teti Gefühle für mich, das wussten wir beide und wahrscheinlich jeder, der uns näher kannte. Aber es war genauso klar, dass wir nie danach gehandelt hatten. Aber Teti sah anders aus als sonst. Die Freude, die sonst immer in ihrem Blick gelegen hatte, war vollkommen verschwunden. Sie sah traurig und verzweifelt aus. Wahrscheinlich sah es alles andere als gut für sie aus. Wenn ich jetzt etwas Falsches sagte, würde ich sie noch mehr in diesen Sumpf reiten, und das konnte ich ihr einfach nicht antun, nicht wo ich ihr in die Augen gesehen hatte.

 

„Nein, wir sind Freunde und wir sind uns sicherlich sehr wichtig, aber nie würde Teti so etwas tun. Wenn Sie sie kennen würden, dann würden Sie das wissen.“ Ich ahnte bereits, dass dieser Satz vielleicht doch nicht so richtig gewesen war, aber ich hatte einfach nicht anders gekonnt. Ich wusste, dass Astrate das direkt falsch auffassen würde, und in der Tat war es auch so. sie beschuldigte mich direkt, nicht hinter ihr zu stehen, hinter meiner Verlobten, wie sie noch betonte. Aber ich erwiderte nur, dass ich nicht wusste, wo die Wahrheit lag, dass sie irgendwo zwischen den Versionen der beiden liegen musste. Wahrscheinlich war das für die Richterin alles andere als hilfreich, aber was hätte ich anderes sagen sollen? Alles andere wäre gelogen gewesen.

 

Dann entließ sie mich aus dem Zeugenstand und ich nahm meinen Sohn wieder entgegen und setzte mich zusammen mit ihm nach hinten. Zu meiner großen Verwunderung trat dann mein Nachbar in den Sitzungssaal. Ich hatte ihn in dem Jahr, das ich jetzt in meinem Haus wohnte, nur einmal gesehen und ich musste sagen, da hatte er vollkommen anders ausgesehen, wie ein besoffener Penner, um genau zu sein. Aber jetzt hatte er sich zumindest ordentlich angezogen und schien nüchtern zu sein.

 

Dann berichtete er, wie er angeblich alles, was Astrate zuvor gesagt hatte, gesehen haben wollte. Und ich war sprachlos. Ich sah Teti an und sie sah genauso verwundert aus. Anscheinend hatte sie damit nicht gerechnet. Aber warum hatte sie damit nicht gerechnet? Weil sie gedacht hatte, unbeobachtet zu sein, oder weil sie nichts getan hatte? Das Erschreckende war, wie genau dieser Kerl alles mitbekommen haben wollte. Er hatte anscheinend alles gesehen, einfach alles, und es sah wirklich schlecht für Teti aus.

 

In meinem Kopf spielte sich das Geschehene ab. Ich ging es in meinem Kopf durch, vielleicht würde ich es dann begreifen können, doch so war es nicht. Ich konnte es einfach nicht begreifen. Ich konnte mir Teti einfach nicht so vorstellen, so war sie nicht, so kannte ich sie nicht und dann konnte es auch nicht wahr sein. Aber konnte ich mich wie ein kleiner Junge vor dem verschließen, was ich nicht hören wollte?

 

„Na ja, und dann war da noch das Geschrei von dem Bengel, grausam erzähle ich Ihnen. Ich bin natürlich sofort aufgestanden, um da draußen so richtig Ordnung zu machen“, erklärte Mr. Olson mit seiner abfälligen Stimme und ich wäre am liebsten aufgesprungen und hätte ihm gezeigt, wer hier grausam war. Mein Sohn sicherlich nicht. Niemand hatte das Recht so über meinen Sohn zu reden, und vor allem hätte ich ihn umgebracht, wenn er meinem Sohn auch nur ein Haar gekrümmt hätte. Aber ich wusste, ich musste ruhig bleiben.„Und als Sie dann die beiden Frauen gesehen haben, die in Ihren Augen sicherlich minderwertig sind … da haben Sie meine Mandantin die Treppe heruntergestoßen und die Nebenklägerin dazu gedrängt eine Falschaussage zu machen, damit ihrem Kind nichts passiert.“ Ich sah Tetis Verteidiger erstaunt an. Das war vielleicht eine Erklärung für das alles, vielleicht war dieser Olson Schuld an dieser ganzen Sache und nicht Teti und auch nicht Astrate. Vielleicht hörten sich ihre Versionen deswegen so unterschiedlich an, weil sie Angst vor diesem Mann hatten. Aber dann blieb immer noch die Frage, warum Teti Seth auf dem Arm gehabt haben sollte. Olson war natürlich alles andere als begeistert von den Beschuldigungen des Verteidigers und stand leicht auf und erhob drohend seine Faust. Sicherlich war das nicht gerade gut für ihn, sich vor Gericht so zu benehmen, aber mir war etwas aufgefallen. Astrates Blick wurde angestrengter. Wenn es so war, wie der Verteidiger sagte, hatte sie vielleicht einfach nur Angst, wegen einer Falschaussage beschuldigt zu werden. Aber anscheinend hatte der Verteidiger mit seiner Frage die Zweifel an Mr. Olsons Aussage bei der Richterin geweckt, denn sie sah sehr nachdenklich aus. Als keine Fragen mehr an Mr. Olson gestellt wurden, wurde auch er entlassen und der Kinderarzt wurde als Zeuge gerufen.

 

„Ich kann Ihnen versichern, dass die Verletzungen, die der Kleine davongetragen hat, nicht von einem Sturz herrühren, vor allem nicht von einem Sturz von einer Treppe in den Armen eines Erwachsenen. Wenn es so gewesen wäre, dann hätte er Brüche davongetragen, wenn er nicht sogar tot gewesen wäre. Denn Miss Kensingtons Verletzungen zufolge ist sie mit dem Bauch nach unten auf den Boden aufgeschlagen, was bedeuten würde, dass sie auf den Kleinen gefallen sein müsste, wenn Miss Bechalis Aussagte stimmte. Der Kleine in seinem Alter wäre regelrecht zerquetscht worden und das, obwohl Miss Kensington wirklich nicht schwer ist“, sagte er und ich sah ihn genau an, nahm jedes Wort auf, das er mit seinen Lippen formte, als würde mein Verstand davon abhängen. Das war es, was mein Herz glauben wollte. Es wollte nicht glauben, dass Teti zu etwas Schlimmen wie Kindesentführung im Stande war, vor allem nicht, wenn sie mir damit hätte schaden wollen.

 

„Die Verletzungen, die der Junge hatte, waren bereits älter. Sie waren schon sichtlich angeschwollen und blau unterlaufen. Dieser Prozess dauert jedoch mehrere Stunden bei dieser Art von Läsion. Ebenso ist zu erwähnen, dass Seth Bloom bereits im Krankenhaus gewesen war, weil seine Mutter ihn vom Wickeltisch hatte fallen lassen. Es sollte also in Erwägung gezogen werden, dass der Vorfall nicht so war, wie ihn Miss Bechali schildert.“ Ich sah Astrate direkt verwundert an. Die Verletzungen waren nur wenige Stunden alt, als das alles passiert war? Hatte sie ihn verletzt? War etwas passiert, das sie mir nicht gesagt hatte und versuchte nun es irgendwie Teti in die Schuhe zu schieben? Natürlich, Astrate hatte ein Motiv, die Unwahrheit zu sagen. Wahrscheinlich wollte sie Teti loswerden und wenn das stimmte, was der Arzt sagte, dann wollte sie vielleicht noch vertuschen, dass sie nicht mit Seth zurecht gekommen war. Aber was hatte dieser Mr. Olson damit zu tun?

 

„Wie geht es dir, Orlando?“, fragte mich Viggo besorgt, als wir draußen in der Kantine darauf warteten, dass die Richterin sich entschieden hatte, was nun wirklich passiert war, oder dass sie zumindest ein Urteil verhängte. Ich sah Viggo an. Ich hatte im letzten Jahr so einen guten Draht zu ihm aufgebaut, er war ein enger Freund geworden und jemand, zu dem ich aufschauen konnte.

 

„Ich weiß es nicht, Viggo. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. Ich weiß noch nicht mal, was ich denken soll. Ich weiß, ich sollte zu Astrate halten, immerhin ist sie Seth‘ Mutter, meine Verlobte, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Teti so etwas machen kann. Ich kann es nicht. Wenn ich sie ansehe, dann ist dieses Bild einfach nicht mit den Sachen, die gesagt wurden, vereinbar“, sagte ich und setzte mich resignierend auf den Stuhl, der neben mir stand. Seth schlief immer noch und ich war froh darüber. Er hatte die ganze Nacht nicht richtig geschlafen, hatte Bauchschmerzen gehabt und nur geschrien. Ich hatte es nach allem, was passiert war, nicht über mich gebracht, dein kleinen Mann einfach schreien zu lassen und hatte die ganze Nacht bei ihm verbracht und versucht ihn zu beruhigen.

 

„Vielleicht solltest du dann eher auf dein Herz hören, als auf das, was alle sagen“, riet er mir und klopfte mir mit seiner Hand auf die Schulter, bevor er mich mit meinen eigenen Gedanken wieder alleine ließ. Ich sollte auf mein Herz hören? Vielleicht nicht die beste Idee, wenn irgendwas damit nicht zu stimmen schien, und das war ja immerhin offensichtlich. Es sagte mir, dass es beide Frauen liebte, jede auf seine eigene Weise, aber es war auch klar, dass dies enden würde, sobald ich wusste, wer meinem Sohn wirklich diese Verletzungen angetan hatte. Ich würde niemanden lieben können, der mein Kind verletzt hatte, das war klar. Doch ich konnte nicht sagen, bei welcher der beiden Frauen es mir mehr leidtun würde. Ich würde Teti vermissen, die Gespräche, die wir geführt hatten, ihre Freundschaft und ihre Hilfe, aber ich würde auch Astrate vermissen. Ihre feurige Art mich immer wieder zu verführen, ihre Schönheit und ihren Körper. Ich befand mich also wieder in derselben Zwickmühle, wie schon seit dem Tag, an dem ich Teti das erste Mal gesehen hatte, und anscheinend hatte sich noch nichts daran geändert.

 

Doch als wir wieder in den Gerichtssaal gerufen wurden spürte ich, dass etwas bevorstand, was diese Situation noch heute auflösen würde. In wenigen Minuten würde klar sein, welche der beiden Frauen in meinem Herz bleiben und welche ich ausschließen würde, endgültig und für immer.

 

Die Wendung, die dann kam, war mehr als verwunderlich und ich musste zugeben, dass ich nie damit gerechnet hatte, auch wenn ich geahnt hatte, dass Teti nicht wirklich das getan haben konnte, wofür sie angeklagt war.

 

Die wunderbare Fassade, die sich Astrate anscheinend durch die Bestechung eines Dealers aufgebaut hatte, fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Mr. Olson, mein Nachbar, war in der Tat ein Mitglied der wellingtoner Drogenmafia und hatte anscheinend jemandem, den Astrate kannte, Drogen verkauft. Das hatte sie dann gegen ihn verwendet, um ihn zu einer Falschaussage in diesem Fall zu bewegen. Somit war ihre Version der Dinge hinfällig. Sie hatte keine Beweise mehr. Doch für Teti sprach einiges. Schon alleine die Tatsache, dass Astrate jemanden zu einer Falschaussage gebracht hatte, war Beweis genug. Und dann gab sie alles zu, selbst, dass sie unseren Sohn geschlagen hatte, und das nicht nur einmal. Für sie war er minderwertig und grausam, da er seine Schwester getötet hatte. Ihre Prinzessin, das Kind, auf das sie gewartet hatte.

 

Ich spürte, wie ein Teil meines Herzens abriss, wie es zersplitterte wie eine eingefrorene Rose, die auf den Boden fiel. Es war eine kitschige Metapher, aber das war das erste, was mir einfiel. Ich fühlte mich, als müsste ich zusammenbrechen. Ich fühlte mich, als brach alles über mir ein und ich würde mich nicht mehr aus diesem Chaos befreien zu können. Wie hatte ich mich so in einem Menschen täuschen können? Wie hatte ich das alles nicht sehen können? Wie hatte ich meinem Sohn das alles antun können? Ich drückte Seth fester an mich. Ich wusste nicht, ob ich es tat, um ihn zu schützen oder weil ich mich an ihm festhalten wollte, weil er das einzige war, das mich im Moment im Hier und Jetzt hielt.

 

Ich bekam nicht wirklich aktiv mit, wie Astrate mir meinen Verlobungsring entgegen schmiss und mich beschuldigte, sie bereits mit Teti betrogen zu haben. Ich befand mich an einem anderen Ort mitten in meinem Kopf und ich machte mich selbst dafür verantwortlich, was mit Seth passiert war. Hätte ich früher erkannt, was los gewesen war, wenn ich die Signale nicht ignoriert hätte, dann wäre ihm vielleicht nichts von alldem passiert. Vielleicht hätte ich mich einfach von Astrate getrennt. Teti hätte sicherlich mit mir für den Kleinen gesorgt und vielleicht hätten wir dann tatsächlich zusammen gefunden.

 

„Orlando? Soll ich dich nach Hause bringen?“, fragte Viggo besorgt und durch seine vorsichtige Berührung holte er mich aus meiner Trance. Der Saal war schon so gut wie leer und Astrate war bereits abgeführt worden. Teti war allerdings noch dort und redete gerade mit ihren Eltern. Wahrscheinlich waren sie alle überglücklich, dass ihre Tochter endlich freigesprochen war, denn von ihnen hatte sicherlich niemand an ihrer Unschuld gezweifelt. Auf einmal packte mich ein unheimlich schlechtes Gewissen. Ich hatte ihr nicht vertraut, hatte wirklich an ihrer Unschuld gezweifelt. Wie konnte ich das tun als ihr Freund und jemand, der behauptete, sie zu kennen und zu lieben? Sanft schob Viggo mich nach draußen vor den Saal, wo bereits die Hobbits warteten. Sie alle sprachen mir ihr Bedauern aus und ich wusste, dass es aufrichtig war. Dann kamen auch Teti, Maria und ihre Familie raus. Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich ihr je wieder in die Augen sehen konnte, ob ich je wieder mit ihr sprechen konnte, so schlimm plagte mich das schlechte Gewissen.

 

Doch dann sah sie mich an, oder zumindest dachte ich, dass sie mich ansah, und ich konnte nicht anders als sie anzusprechen. Aber ich konnte mich nicht entschuldigen. Was ich getan hatte, war nicht zu entschuldigen, und das erwartete ich auch nicht von ihr, würde es nie tun. „Montag müssen wir alle noch einmal zum Mount Olympus… und ich könnte einen Babysitter und eine Souffleuse gebrauchen“, sagte ich also. Sicherlich war das nicht das beste gewesen, was ich hätte sagen können, aber ich hoffte, dass sie auch so verstand, was ich alles eigentlich sagen wollte, es nur nicht konnte. Ich öffnete leicht meine Arme und da war sie auch schon förmlich hineingesprungen. Sie drückte mich fest an sich und trotz meines Schmerzes, den ich innerlich spürte, wollte ich sie nie wieder loslassen. Seth, den ich, als ich Teti gesehen hatte, Viggo gegeben hatte, gluckste fröhlich vor sich hin, denn anscheinend war er zufrieden. Ich musste lächeln, als ich das hörte.

 

„Ich denke, das lässt sich einrichten, Mr. Bloom. Ich danke dir“, sagte sie. Ich stockte einen Moment. Sie lächelte mich breit an. Ich musste mich verhört haben. Hatte sie sich gerade bei mir bedankt? Wofür? Es gab wirklich gar nichts an dieser ganzen Sache, für die sie sich hätte bedanken müssen. „Na, dass du neutral geblieben bist. Dass du auf uns beide sauer warst.“

 

„Du bist wirklich einzigartig, Teti“, war das einzige, was ich rausbrachte. Ich konnte nicht glauben, was sie gerade gesagt hatte. Ich fühlte mich nicht, als sei ich neutral geblieben. Ich fühlte mich eher, als hätte ich sie betrogen, als hätte ich ihr Vertrauen in mich missbraucht. Ich hatte ihr nicht vertraut in dem Moment, wo ich ihr am meisten hätte vertrauen müssen. Ich hatte ihr nicht vertraut, obwohl die Beweise, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, direkt vor meinen Augen gelegen hatten. Aber sie strahlte mich nur an und lachte. Ebenso streichelte sie Seth immer wieder über die kleine Wange, die immer weniger blau war und langsam schon von einem leichten Lila in ein Gelb überging.

 

„Ich würde dein Angebot gerne annehmen, Viggo. Es gibt einige Sachen, die ich aus meinem Haus werfen muss“, sagte ich dann zu Viggo, als die anderen beschlossen hatten, den guten Ausgang des Prozesses mit einem Essen bei den Kensingtons zu feiern. Mir war wirklich nicht nach Feiern zumute und ich wollte alles, was mich noch an Astrate erinnern würde, aus dem Haus schaffen. Nichts sollte mich und meinen Sohn mehr daran erinnern, was geschehen war, was seine Mutter ihm angetan hatte. Und eine Frage stellte sich mir plötzlich stärker als je zuvor: War Astrate jemals Seth‘ Mutter gewesen?

 

 

 

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